?Was in Georgien passiert, geht uns alle etwas an“
In die internationalen Schlagzeilen schafft Georgien es nur hin und wieder. Dabei sollte sich Europa stärker für das interessieren, was im südlichen Kaukasus vorgeht, findet Thomas Schwartz. ?In Georgien passiert im Moment in kleinem Stil das, was auch in Russland passiert ist“, warnt der Geistliche, der seit 2021 Renovabis leitet, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa.
Bei offenbar manipulierten Parlamentswahlen im vergangenen Oktober ist die Partei ?Georgischer Traum“ an die Macht gekommen, welche das Land von seinem Weg hin zur europäischen Integration abzubringen versucht. Schwartz weist darauf hin, dass dagegen seit Monaten tägliche Demonstrationen in Tbilisi/Tiflis stattfinden: Diese Demonstranten seien ?immer noch der Meinung, dass es sich lohnt, für das europäische Projekt und für einen liberalen Rechtsstaat, den sie alle anstreben, tätig zu werden – und genau das kann man nicht anders als unterstützen!“
Renovabis ist mit vielfältigen Projekten in Georgien engagiert, auch im sozialen Bereich. Jeder dritte Georgier ist auf Hilfe angewiesen. Stefan Kempis konnte unlängst an einer Renovabis-Recherchereise durch Georgien teilnehmen; er sprach in Tiflis mit Thomas Schwartz.
Interview
Warum wäre es wichtig, dass man sich jetzt innerhalb der EU und in Deutschland für so ein kleines, abseitiges Land wie Georgien, seine Politik, auch seine Kirchen interessiert?
?Weil das, was in Georgien geschieht, im Augenblick natürlich auch widerspiegelt, was sich in vielen anderen Ländern dieser Welt – auch in unserem eigenen Land! – an Tendenzen zur Polarisierung und zur Entsolidarisierung von Gruppen vollzieht. In Georgien passiert im Moment in kleinem Stil das, was auch in Russland passiert ist.“
Trotzdem wirkt diese Entwicklung ziemlich unaufhaltsam…
?Ich weiß jetzt nicht, ob es meine Aufgabe ist, das zu kommentieren, ob das unaufhaltsam ist. Ich glaube, dass viele engagierte Menschen, die hier tagtäglich und wöchentlich auf die Straßen gehen, immer noch der Meinung sind, dass es sich lohnt, für das europäische Projekt und für einen liberalen Rechtsstaat, den sie alle anstreben, tätig zu werden – und genau das kann man nicht anders als unterstützen!“
Wie steht die katholische Kirche hier im Land da?
?Die katholische Kirche in ihren drei Denominationen – es sind ja Chaldäer, armenisch-katholische und römisch-katholische Christen – ist natürlich eine kleine Minderheit. Nichtsdestotrotz ist diese kleine Minderheit eine sehr aktive, wenn es darum geht, im kulturell-edukativen Bereich genauso wie im sozialen Bereich deutlich zu machen, dass es hier noch unglaublich viel Not gibt. Dass unglaublich viele Bedürfnisse herrschen, die man zu befriedigen hat und die damit verbunden sind, dass man würdevoll miteinander umgeht. Und die Kirchen und gerade auch die Caritas haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine unglaubliche Menge an Initiativen gestartet, um den Menschen auch in den vulnerablen Situationen ihres Lebens Würde zu gewährleisten und ihnen ein würdevolles Leben möglich zu machen. Und das wollen wir unterstützen!“
Welche Schwerpunkte setzt Renovabis in Georgien genau?
?Es setzt die Schwerpunkte in Georgien, die unsere Partner setzen wollen. Das heißt: Wir sind offen dafür, im Gespräch auf Augenhöhe mit unseren Partnern zu eruieren und herauszufinden, was unsere Partner für die Entwicklung der Kirche und auch der Gesellschaft als notwendig und wichtig erachten, und welche Prioritäten sie setzen. Das ist für uns wichtig. Wir haben Bildungsprojekte – und sehr viel Caritas. Denn wenn man sich klarmacht, dass 30, 40 (manche reden sogar von 50) Prozent der Menschen hier in diesem Land immer noch unterhalb der Armutsgrenze leben, und das in einem europäischen Land!, dann ist auch das Engagement der Caritas im sozialen Umfeld ein unglaublich wichtiges und notwendiges. Und dass Bildung etwas ist, das aus sozialen Miseren herausführt – das brauche ich, glaube ich, auch Radio Vatikan nicht zu erzählen. Alle Ihre Hörer wissen, wie wichtig das ist.“
Trotzdem – ein Tropfen auf den heißen Stein…
?Und wenn man nicht den Tropfen auf den heißen Stein tropfen ließe, würde sich gar nichts verändern. Steter Tropfen höhlt auch den Stein, selbst wenn er heiß ist… Und dann wird er auch mal kalt. Außerdem sind solche ?Leuchtturmprojekte‘, wie sie die Kirche und die Caritas wirklich hier in diesem Land auf die Beine stellen, genau das, was die Menschen brauchen, um zu sehen: Es geht anders, es geht besser. Es lohnt sich, sich zu engagieren. Und es lohnt sich für die Gesellschaft, sich für die Ärmsten in der Gesellschaft, für eine Veränderung der Lebensumstände einzusetzen.“
Dass steter Tropfen den Stein höhlt – gilt das auch für die Beziehungen zur orthodoxen Mehrheitskirche? 95 Prozent Orthodoxie, das ist erdrückend, und ökumenisch läuft da fast gar nichts…
?Das ist ja zunächst mal nicht unser Problem, sondern das ist das Problem der Orthodoxie! Mitunter kann es sein (ich will da jetzt auch nicht psychologisieren), dass eine Mehrheitskirche sich vom großen Engagement einer Minderheitenkirche provoziert fühlt oder aber nicht wahrhaben will, dass es auch anders als nur in der Liturgie Möglichkeiten gibt, Kirche zu verwirklichen, Kirche zu sein. In der Tat glaube ich auch in dieser Hinsicht, dass steter Tropfen den Stein höhlt: Wir müssen dafür sorgen, dass immer wieder Gespräche, Kontakte zumindest von katholischer Seite angeboten werden… Wir sind nicht dazu da, Brücken abzubrechen, sondern Brücken aufzubauen, über die dann zu gehen die orthodoxen Mitchristen eingeladen sind. Ob sie sie nutzen – das ist meine Hoffnung, ist mein Wunsch, aber es ist nicht etwas, das ich Ihnen vorzuschreiben habe.“
Sie führen in diesen Tagen viele Gespräche, sehen auch viel Elend um sich herum – gibt es vielleicht eine Geschichte, die Sie berührt oder zum Nachdenken gebracht hat?
?Also, ich habe mit einem jungen Mann gesprochen, der mir erzählt hat, wie das war, als er zum ersten Mal ins westliche Ausland reiste. Da hat er seine Mutter angerufen und ihr erzählt: ?Es ist alles wunderbar hier, die Menschen sind freundlich, es gibt Wohlstand – aber es ist ja grauenhaft, wie viele Behinderte hier rumlaufen! Die haben hier offensichtlich ganz viele behinderte Menschen.‘ Und da sagte seine Mutter ihm: ?Junge, das ist bei uns auch so, nur – du siehst sie nicht, weil die Menschen sich schämen, ihre Kinder, ihre Behinderten öffentlich zu zeigen!‘ Und das ist etwas, was mich hier immer immer wieder traurig macht: dass die Menschen oftmals noch meinen, Behinderung sei etwas, das man verstecken müsste. Etwas, wofür man sich schämen müsste. Etwas, was das Menschsein weniger wertvoll machen würde.
Und alle Initiativen, die wir unterstützen, versuchen gerade dagegen zu handeln und deutlich zu machen: Es ist würdevoll, Menschen mit Behinderungen auch auf den Straßen zu sehen! Es ist gut, dass es diese Menschen nicht nur gibt, sondern es ist gut, diesen Menschen mit Freundlichkeit, mit Wertschätzung, mit Würde zu begegnen. Denn sie haben sie verdient, genauso wie jeder von uns das verdient hat!“
Hintergrund
Die katholische deutsche Osteuropa-Solidaritätsaktion ?Renovabis“ hat am vergangenen Sonntag in Berlin ihre Pfingstaktion eröffnet. Unter dem Motto ?Voll der Würde“ will sie auf die Nöte der Menschen am östlichen Rand Europas aufmerksam machen. Am Pfingstsonntag, 8. Juni, wird in allen katholischen Kirchen für Renovabis-Projekte zugunsten der Menschen in Mittel-, Südost- und Osteuropa gesammelt. Mit ihrer Pfingstspende fördern Unterstützerinnen und Unterstützer konkrete Hilfsprojekte der Partner von Renovabis und stärken die Solidarität zwischen Ost und West.
(vatican news – sk)
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