Warum ausgerechnet Georgien?
Das meint unser Kollege Stefan von Kempis, der unlängst an einer Recherchereise des katholischen deutschen Hilfswerks Renovabis durch Georgien teilgenommen hat.
Interview
Was ist das Besondere an Georgien?
?Zum einen ist es landschaftlich sehr reizvoll: schneebedeckte Berge, teilweise über 5.000 Meter hoch, dazwischen Hochplateaus und Täler; viel Landwirtschaft, Früchte und Weinbau, der angeblich eine etwa 5.000-jährige Tradition hat. Außerdem ist dieses relativ kleine Land von nicht einmal vier Millionen Einwohnern ein reiches Völkermosaik: Hier leben auch Russen, Armenier, Aserbaidschaner, Osseten oder Griechen. Und man findet hier auf Schritt und Tritt Spuren einer reichen Geschichte, ob das Stalins Geburtshaus ist oder alte Karawansereien, die an der Seidenstraße zwischen Persien und dem antiken Griechenland lagen, oder auch Kirchen und Klöster, die sogar auf das 7. Jahrhundert zurückgehen.“
Georgien gehört also zu den ältesten christlichen Staaten?
?Ja, es soll schon 337 das Christentum als Staatsreligion angenommen haben – als zweites Land weltweit nach dem Nachbarn Armenien. Man muss sich das einmal vorstellen, das war nur zwölf Jahre nach dem Konzil von Nizäa! Es ist bewegend, bei der Fahrt über Land auf einmal aus der Ferne auf irgendeiner Bergspitze eine antike Kirche zu entdecken, die dort oben hockt… Entscheidende Figur für das georgische Christentum ist die heilige Nino ?die Erleuchterin“; ihr Emblem findet man überall, ein Kreuz aus Weinreben, die mit ihrem Zopf zusammengeflochten sind. Die Identität der Georgier ist durch und durch christlich geprägt, und die orthodoxe Kirche spielt für das nationale Selbstbewusstsein eine entscheidende Rolle; das war schon so in den etwa hundert Jahren Annexion und Fremdherrschaft durch die russischen Nachbarn.“
Russland ist ja heute noch ein schwieriger Nachbar für die Georgier…
?Ja, mit Russland hat das kleine Georgien immer wieder schlechte Erfahrungen gemacht. Nach der Oktoberrevolution in Russland war Georgien ganze drei Jahre unabhängig, dann kam die Rote Armee und machte der Sache ein Ende. Georgien wurde Sowjetrepublik (und übrigens ein beliebtes Ferienziel von Menschen hinter dem Eisernen Vorhang), und erst 1991 konnte es wieder die Unabhängigkeit erringen. Eine allerdings immer wieder bedrohte und von innen ausgehöhlte Unabhängigkeit. 2008 marschierten Putins Truppen über die Grenze, das Ergebnis waren die (international nicht anerkannten, prorussischen) Pseudo-Republiken Südossetien und Abchasien, beide auf georgischem Staatsgebiet gelegen – das alles passierte sechs Jahre, bevor die ?kleinen grünen Männchen‘ sich im Auftrag des Kreml die Krim unter den Nagel rissen! Bis heute sind etwa zwanzig Prozent von Georgien russisch besetzt… wovon im Westen kaum jemand mal redet.“
Die ?russische Gefahr‘: Ist das der Grund, warum man sich in den westlichen Ländern und generell in Europa stärker für Georgien interessieren sollte?
?Ja, auf jeden Fall! Denn Georgien ist Europa, und es sollte uns nicht gleichgültig sein, wenn der russische Bär seine Tatze auf einen Teil Europas legt, der nach Westen drängt. Egal, mit wem man in Georgien spricht: Alle fürchten sich vor dem großen Nachbarn. Auch die Partei ?Georgischer Traum‘, die nach Ansicht vieler Beobachter und Experten die Parlamentswahl vom vergangenen Herbst getürkt hat, gibt sich offiziell antirussisch und proeuropäisch – und das, obwohl sie ganz nach russischem Modell ins Autoritäre abdriftet. Das wirkt wie ein absurdes Doppelspiel: Scheinbar hält auch die jetzige Regierung, deren Legitimität viele in Zweifel ziehen, Kurs in Richtung EU. De facto aber schränkt sie die Meinungsfreiheit ein und schikaniert Medien und Oppositionelle nach einem Drehbuch, das von Putin stammen könnte. Die Hilfswerke, die Geld aus dem Ausland erhalten (darunter die katholische Caritas), werden gesetzlich hart herangenommen, die Menschenrechtslage verschlechtert sich immer mehr.“
Droht Moskau mit einem Einmarsch im kleinen Nachbarland?
?Würde es das wollen, dann gäbe es wohl wenig, was sich ihm entgegenstellen könnte; die Grenze ist mehr als 700 km lang. Aber wie in anderen Staaten in seinem Einflussgebiet (mit Ausnahme der Ukraine) setzt Russland auf eine heimliche Übernahme. Viele Georgier sagen sarkastisch: ?Die Russen brauchen gar nicht mehr zu kommen – sie sind ja längst hier‘, und damit meinen sie das russische U-Boot namens ?Georgischer Traum‘, also die Regierungspartei. Die wird von einem Milliardär namens Bidsina Iwanischwili aus dem Hintergrund gelenkt und dient mutmaßlich seinen Geschäftsinteressen, die ihn mit Russland verbinden. Oppositionelle nennen Iwanischwili ?Putins Marionette‘. Man muss sich nur einmal vorstellen: Seit Dezember 2023 ist Georgien offiziell Kandidat für einen EU-Beitritt. Deutschland stuft Georgien als ?sicheren Drittstaat‘ ein, was bedeutet, dass Georgier ?zurückgeschoben‘ werden können – und in Wirklichkeit entfernt sich das Land seit den wohl manipulierten Parlamentswahlen vom Oktober 2024 in Riesenschritten von der EU.“
Gibt es dagegen keinen Widerstand im Land?
?Doch – vor allem Demonstrationen, Abend für Abend, den Winter hindurch, bis heute. Vor allem junge Leute, viele von ihnen mit georgischer oder mit EU-Fahne oder auch der ukrainischen Fahne um die Schultern, demonstrieren jeden Abend vor dem Parlamentsgebäude in Tbilisi. Einige halten Fotos der Demonstranten in Händen, die verhaftet worden sind; ungefähr fünfzig sollen derzeit im Gefängnis sitzen. Zuerst sind die Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstrationen vorgegangen, und auch auf Seiten der Protestierenden gab es einzelne Episoden der Gewalt. Mittlerweile setzt der ?Georgische Traum‘ offenbar darauf, dass den Demonstranten irgendwann die Puste ausgeht. Und sie werden finanziell gepiesackt: Wer die Straße betritt und dabei von einer der vielen Überwachungskameras erfasst und identifiziert wird, muss eine empfindliche Geldbuße leisten, ein Zigfaches des durchschnittlichen Monatssalärs. Dass die Demos nicht abebben, dürfte ein ständiger Stachel im Fleisch der Regierung sein. Die Opposition spielt übrigens bei diesen Protesten keine sichtbare Rolle; sie ist notorisch zerstritten, auch wenn sie sich im April zu einem einheitlichen Bündnis zusammengeschlossen hat.“
Aber haben solche Demos denn Aussichten, die Regierung zur Abkehr von ihrem russlandfreundlichen Kurs zu bringen?
?Das ist eine gute Frage. Wenn man mit Demonstranten redet, sagen einige: ?Was sollen wir denn sonst tun? Wenn wir gar nicht mehr hierhinkommen, dann war’s das mit der Meinungsfreiheit“. Die frühere Staatspräsidentin Salome Surabischvili, mittlerweile die Führungsfigur der Opposition, setzt darauf, die Regierung konsequent als illegitim zu brandmarken; darum verweigert die Opposition auch weitestgehend die Mitarbeit im Parlament. Surabischvili drängt die EU zu Druck und Sanktionen gegen die jetzige Regierung; die EU müsse begreifen, dass es auch hier – wie in der Ukraine – in Wirklichkeit um einen Angriff Russlands auf Europa gehe. Russlandfreundliche Kräfte hätten eine Art Putsch unternommen, das nennt sie ?state capture‘, der Staat als Geisel. In die mehrheitlich jungen Demonstranten setzt sie große Hoffnungen: Das sei eine Generation, die nach dem Ende der Sowjetära geboren worden, die an Freiheit gewöhnt sei und die eine Autokratie niemals akzeptieren würde. Aber die deutschsprachige georgische Schriftstellerin Anna Kordsaia-Samadaschwili sagt in einem Interview ganz offen, sie habe keine Hoffnung, dass sich die Protestbewegung durchsetzen könne. Die Leute könnten ja nicht ewig weiterdemonstrieren. ?Und wozu auch? Denen, die oben sind, ist das scheinbar völlig egal.‘ Es ist wohl auch so, dass die weitverbreitete Armut den Machthabern hilft: Wer sich auf dem Land Sorgen machen muss, ob er heute Abend etwas auf dem Teller hat, der denkt nicht über die politischen Querelen im fernen Tbilisi nach.“
Ist Georgien wirklich so arm? Zumindest die Hauptstadt erweckt nicht unbedingt diesen Eindruck…
?Das stimmt, in Tbilisi findet man moderne Architektur wie in Bilbao oder Rotterdam, und im Straßenbild sieht man durchaus dicke Schlitten, die durch den Verkehr manövrieren. Aber sobald man die Stadt verlässt, entdeckt man eine ganz andere Welt, die von tiefer Armut gezeichnet ist: Verfallende Holzhäuser, verschlammte Straßen, die Menschen leben mehr schlecht als recht von dem, was sie anbauen; der Stadt-Land-Gegensatz ist frappierend. Ein Viertel der Georgier lebt in Armut, die Arbeitslosenquote soll nach Schätzungen zwischen 30 und 50Prozent betragen, der Monatsverdienst liegt bei etwas über 400 Euro. Georgien, das ist ein bitterarmes und karges Land an der Peripherie Europas – umso erstaunlicher ist die sprichwörtliche georgische Gastfreundschaft. Bis vor gar nicht langer Zeit reichte es, wenn man abends als Fremder in ein Dorf kam, ?Maspindselo!‘ zu rufen, also ?Gastgeber!‘ Dann sprangen Türen auf, und bald bogen sich die Tische unter dem, was da aufgefahren wurde. Noch heute ist es kaum zu fassen, wie großzügig die Menschen einen zum Essen einladen. Als unsere Reisegruppe bei der katholischen Kirche des lateinischen Ritus zu Gast war, hatte der lateinische Bischof Pasotto – von Haus aus ein italienischer Missionar – die Pasta gekocht, und er ging selbst herum und bediente…“
Wie sieht denn die christliche Landschaft in Georgien heute aus? Wir haben schon erwähnt, dass Georgien die zweite Nation war, die das Christentum zur Staatsreligion machte…
?Eine überwältigende Mehrheit der Georgier ist orthodox; das Orthodoxe ist nahezu mit der georgischen Identität verschmolzen, und die orthodoxe Kirche hat auch als Faktor gegen die Fremdbestimmung durch das Russland der Zaren und durch die Sowjets und als Fixpunkt der Unabhängigkeit eine wichtige Rolle gespielt. Seit 1977 residiert Ilia II. im Patriarchat von Tbilisi und hat mit dafür gesorgt, dass die georgische zu den konservativsten der vierzehn autokephalen orthodoxen Kirchen zählt. Am panorthodoxen Konzil von Kreta 2016 hat die georgische Kirche nicht teilgenommen, und Ökumene ist vielen Georgiern ein Fremdwort. Zwar wurden Johannes Paul II. 1999 und Franziskus 2016 freundlich empfangen, doch es gibt durchaus Georgier, die den Papst für den ?Antichrist‘ halten. Übrigens ist die katholische Kirche im Land verschwindend klein und in mehrere Gruppen gespalten: Lateiner, Armenier, Chaldäer. Umso wichtiger ist unter solchen Umständen ihre Arbeit im Bildungs- und Sozialbereich. Vor allem die katholische Caritas leistet – übrigens mit mehrheitlich orthodoxen Mitarbeitenden – einfach Erstaunliches…“
Die katholische deutsche Osteuropa-Solidaritätsaktion ?Renovabis“ hat am vergangenen Sonntag in Berlin ihre Pfingstaktion eröffnet. Unter dem Motto ?Voll der Würde“ will sie auf die Nöte der Menschen am östlichen Rand Europas aufmerksam machen. Am Pfingstsonntag, 8. Juni, wird in allen katholischen Kirchen für Renovabis-Projekte zugunsten der Menschen in Mittel-, Südost- und Osteuropa gesammelt. Mit ihrer Pfingstspende fördern Unterstützerinnen und Unterstützer konkrete Hilfsprojekte der Partner von Renovabis und stärken die Solidarität zwischen Ost und West.
(vatican news)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, k?nnen Sie hier unseren Newsletter bestellen.