?Voll der W¨¹rde¡°: Ein Besuch bei der Caritas Georgien
Stefan von Kempis
Umso beeindruckender ist die Arbeit, die die Caritas Georgien leistet ¨C mit über 360 Beschäftigten und über hundert Ehrenamtlichen, in der Hauptstadt Tbilisi und an etwa zehn Standorten überall im Land. Dabei bringen die heftigen politischen Turbulenzen seit der Parlamentswahl vom Oktober letzten Jahres auch die Caritas in Gefahr.
Anahit Mkhoyan, eine gebürtige Armenierin, leitet seit 2016 die georgische Caritas. In unserem Interview erklärt sie u.a., was Caritas-Arbeit in einem mehrheitlich orthodoxen Land bedeutet.
Interview
Könnten Sie nun bitte ein kurzes Profil der Caritas Georgien geben? Wann wurde sie gegründet? Was leistet sie?
?Sie wurde 1994 gegründet; letztes Jahr haben wir ihr 30-jähriges Bestehen gefeiert. 30 Jahre, das hört sich vielleicht nicht nach einer langen Zeit an, aber für unser Gefühl ist die Caritas alt: Weil sie am Beginn der Rückkehr in die Weltkirche steht. Wir haben ein dezidiert katholisches Profil und halten an unserer katholischen Identität fest; zugleich haben wir sehr professionelle Dienste, weil die Caritas gegründet wurde, um den Armen professionelle Dienste zu bieten. Wie es die katholische Soziallehre sagt: Die Armen haben ein Recht auf die gleichen Dienstleistungen, die gleiche Art von Diensten wie alle anderen! Es geht dabei um die Würde des Menschen. Wir arbeiten hart daran, diese Standards einzuhalten ¨C in einem armen Land wie Georgien.
Mit welchen Problemen haben denn die ärmeren Menschen in Georgien zu kämpfen?
?Das ist unterschiedlich ¨C aber wenn Sie auf unsere Arbeit schauen, dann werden Sie feststellen, dass bis 2024 dreißig Prozent unserer Operationen (das ist sehr viel!) für Kinder bestimmt war. Viele Kinder arbeiten und leben ohne elterliche Fürsorge auf der Straße; andere wiederum leben zwar in Familien, aber in einer sehr schlechten Situation. Darum hat Caritas Georgien seit seiner Gründung massiv mit Kinderfürsorge und Kindertagesstätten an ihrer Bildung und psychologischen Hilfe gearbeitet. Dabei ist es immer wichtig, die Eltern miteinzubeziehen, um sie nicht zu sehr von ihrer Familie zu trennen und um nicht das Gefühl wachzurufen, als wäre die Caritas gut und ihre Familie schlecht...
Das ist der größte Bereich. Wir haben außerdem Kinder, die bei uns leben; das sind gewissermaßen ?unsere¡° Kinder, und sie sind stolz darauf, ?Caritas-Kinder¡° zu sein; wir haben es geschafft, dass das kein negatives Stigma ist¡
Der zweite wichtige Bereich ist die Gesundheitsversorgung. Da bemühen wir uns um eine menschliche Art und Weise der Pflege und des Kümmerns um andere; es ist nicht wichtig, wie viel wir tun, wie viel Gutes wir tun, sondern es ist wichtig, wie viel Liebe wir in das investieren, was wir tun (das sind Worte von Mutter Teresa, nicht meine!). Was die häusliche Pflege betrifft, hat Caritas Deutschland uns geholfen, Standards dafür festzulegen, und wir bemühen uns ständig darum, lizenzierte Krankenschwestern zu bekommen, um weitere Krankenschwestern auszubilden. Wir arbeiten auch mit professionellen Einrichtungen zusammen, um Krankenschwestern und -pfleger auszubilden, die bettlägerige Menschen ?auf Caritas-Art¡® pflegen. Caritas bedeutet für mich, dass man eine Person kennt, dass man Einfühlungsvermögen hat und den Schmerz einer Person wirklich mit ihr teilt.
Was die übrigen Bereiche betrifft: Da sind die Ärmsten, die schlichtweg etwas zu essen brauchen. Außerdem haben wir letztes Jahr damit angefangen, den Rückkehrern und abgeschobenen Georgiern aus verschiedenen europäischen Ländern zu helfen, mithilfe von Caritas Belgien und Frontex; die Zahl dieser Menschen ist letztes Jahr stark angestiegen. Im Jahr 2023 unterstützten wir mit diesem Programm jährlich 150 Personen; letztes Jahr waren es auf einmal 541 Personen, und dieses Jahr waren es in drei Monaten bereits 600 Personen!¡°
Wie viele Rückkehrer kommen eigentlich aus Deutschland? Haben Sie dazu Zahlen?
?Es steht an vierter Stelle der Statistik zu den Ländern, aus denen Georgier wieder in ihre Heimat zurückkehren (müssen). Wir haben jetzt 1.500 Personen auf unserer Liste; die meisten davon sind aus Griechenland zurückgekommen, ansonsten aus Zypern, Polen an vierter Stelle aus Deutschland; derzeit zwischen 200 und 250 Personen.¡°
Sie versuchen ja, diesen Rückkehrern finanziell, psychologisch und beim Umgang mit den Behörden zu helfen ¨C wie ist es denn für diese Menschen, jetzt nach Georgien zurückkehren zu müssen?
?Das hängt davon ab, wie viele Jahre sie auf Asyl gewartet haben. Wenn das nur ein oder zwei Jahre waren, dann ist das nicht so schwer für sie; sie haben immer noch ihre familiären Bande, und unsere Kultur ist stark auf die Familie ausgerichtet, man unterstützt sich in der Familie gegenseitig. Aber wir haben Fälle, in denen sie sechs, sieben, acht oder sogar neun Jahre auf Asyl gewartet haben; die haben zum Beispiel Kinder, die nicht einmal Georgisch sprechen. Solche Fälle sind die schwierigsten, die Fälle dieser Kinder. Eine Integration der Erwachsenen ist nicht so problematisch; es ist ihr Land, und auch wenn sie zunächst mit manchen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, kommen sie doch irgendwie zurecht. Aber die Kinder, die in anderen Ländern geboren wurden ¨C für die ist das eine Katastrophe. Und wenn sie dann in ein anderes Land gehen, haben sie die Hoffnung, dass es für sie besser wird, wenn sie zurückkommen.
In psychologischer Hinsicht allerdings ist die Lage für Rückkehrer durchweg sehr hart; darum sind unsere Leute, die ihnen helfen sollen, speziell ausgebildet. Diese Rückkehrer sind sehr wütend, und ein wichtiger Teil unserer Arbeit besteht darin, mit dieser Wut umzugehen. Die Rückkehrer sind verzweifelt; einige von ihnen sind außerdem schwerkrank und sterben nach einer Weile, noch während sie unser Hilfsprogramm durchlaufen. Ich muss zugeben, dass mich das auch manchmal wütend macht: Hättet ihr diesen Menschen nicht einfach in Ruhe sterben lassen können, wie es sich gehört?
Gerade eben habe ich eine Nachricht aus Deutschland erhalten: Da soll eine Familie abgeschoben werden. Die Eltern sind schon ältere Leute; sie wissen nicht, wo sie hingehen sollen in Georgien; und dazu haben sie einen 30-jährigen Sohn mit Down-Syndrom. Da muss ich ehrlich zugeben, dass ich nicht nachvollziehen kann, aus welchen Gründen man diese Menschen abschiebt. Wir werden sie hier mit maximal 3.000 oder 4.000 € unterstützen können, das reicht nur für ein paar Monate, und die Pflege eines Menschen mit Down-Syndrom ist ziemlich teuer¡Wir haben es also mit schwierigen Fällen zu tun. Aber wir müssen nun mal umgehen mit dem, was Gott gegeben hat...¡°
Seit den letzten Wahlen sind Sie mit einem neuen politischen Kurs konfrontiert, der eigentlich pro-russisch ist. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
?Es beeinflusst meine Arbeit natürlich. Die Auseinandersetzung mit der Regierung, welche verlangt, dass wir uns als ?ausländische Agenten¡® registrieren lassen sollen, hat viel Kraft gekostet, aber glücklicherweise wird das entsprechende Gesetz noch nicht vollständig durchgesetzt; wäre das der Fall, müssten wir mit einer Geldstrafe rechnen. Wir haben uns nicht registrieren lassen, weil wir festgestellt haben, dass die Informationen über unsere Begünstigten, nach denen sie fragen, sehr persönlich sind; die Caritas stand also vor der moralischen Entscheidung, gegen das Datenschutzgesetz zu verstoßen oder eine Registrierung zu verweigern. Natürlich haben wir uns unter diesen Umständen für die Nichtregistrierung entschieden.
Mittlerweile ist von einem anderen Gesetz in diesem Bereich die Rede, das auf ein amerikanisches Vorbild zurückgeht und das uns ¨C auch wenn viele NGOS aufschreien ¨C als Caritas nicht betrifft. Wichtig wäre allerdings, dass sie das vorige, russisch inspirierte Gesetz annullieren, sonst würde dieses uns weiterhin schaden.
Wir hatten ein sehr schönes Projekt zusammen mit der slowakischen und der polnischen Botschaft in Planung; das kann nun wegen der neuen Rechtslage nicht mehr finanziert werden. Dazu kam der Stopp der US-Entwicklungshilfe: Das betraf uns zwar nicht direkt, weil wir von den USA keine Mittel bekamen, aber die Begünstigten solcher Projekte, die jetzt auf einmal eingestellt werden mussten, wenden sich jetzt natürlich an uns, und das können wir kaum bewältigen. Wir haben eine starke soziale Spannung im Land, doch wegen dieses Gesetzes und der politischen Lage können wir kaum Fundraising betreiben; dazu kommt, dass wir die ganze Zeit unter besonderer Beobachtung stehen. Und gleichzeitig bleiben viele Menschen ohne Pflege und Sozialhilfe und wenden sich an die Caritas. Ich weiß wirklich nicht, wie wir mit dieser Situation zurechtkommen sollen.¡°
Wie finden Sie Ihre Projekte? Wovon lassen Sie sich leiten?
?Wir gehen das professionell an, durch ein häufiges Screening der sozialen und wirtschaftlichen Lage im Land. Auf dieser Basis entwickeln wir eine strategische Planung für fünf Jahre, die alle zwei Jahre überprüft wird. Wichtig ist uns, uns auf die am meisten gefährdeten Gebiete zu konzentrieren; wir führen auch unsere eigenen Untersuchungen durch, erhalten Infos von der Basis, verbinden diese mit den Informationen, die wir von der Regierung erhalten, um die tatsächliche Situation zu verstehen. Und auf dieser Grundlage entwickeln wir die Projekte.¡°
Sie sehen sich dezidiert als katholische Organisation in einem Land, das zu 95 Prozent orthodox ist. Was bedeutet das für Sie?
?Das bedeutet eine große Verantwortung, denn in Wirklichkeit müssen wir sozusagen ein katholisches Profil vermitteln. Ich meine damit: Was auch immer wir tun, es wird sich auch auf den Ruf der katholischen Kirche niederschlagen; entweder verbessern wir ihren Ruf, oder wir beschädigen ihn. Ich muss aber sagen, dass ich in dieser Hinsicht zufrieden bin; ich glaube, wir verbessern den Ruf, weil wir hundertmal unter Beweis gestellt haben, dass es der katholischen Kirche mit ihrer Caritas nicht darum geht, Menschen zum Katholizismus zu bekehren. Die Anfänge waren schwierig, aber mittlerweile sind die Beziehungen sehr entspannt. Manchmal kommt es bei uns allerdings zu Missverständnissen mit katholischen Priestern, die denken, dass wir nur Katholiken helfen sollten ¨C ja, so etwas gibt es auch! Nicht wirklich christlich¡ Aber katholische Priester sind auch Menschen. Leider gibt es Orte in Georgien, an denen katholische Priester ihre Schwierigkeiten mit der Caritas haben; anstatt die Caritas als Instrument für die Kirche zu nutzen, bekämpfen sie sie manchmal sogar...¡°
Leistet die orthodoxe Kirche vergleichbare Sozialarbeit?
?Sie leistet durchaus eine gewisse Sozialarbeit, aber die ist nicht so ausgebaut wie in der katholischen Kirche. Wir haben eine weit entwickelte katholische Soziallehre ¨C darauf können wir stolz sein! Sie ist ein erstaunliches Werk. Eine Mission, die in die Tat umgesetzt werden will.¡°
Die meisten Ihrer Mitarbeitenden sind orthodox, nicht wahr?
?Ja. Wir sagen ihnen beim Vorstellungsgespräch als allererstes, dass die Caritas eine Organisation der katholischen Kirche ist ¨C eine glaubensbasierte Organisation. Und dass wir daran arbeiten, den Armen Christus zu bringen. Dann fragen wir, ob sie das Gespräch fortsetzen wollen, und wenn sie Ja sagen, machen wir weiter. Es ist uns egal, ob sie katholisch sind oder nicht, aber es ist uns wichtig, dass Sie unsere spirituellen Werte mittragen. Wir fragen sie: Sind Sie damit einverstanden oder nicht? Wenn sie zustimmen und dann unterschreiben, dass sie unsere spirituellen Werte vertreten, bedeutet das, dass es nicht wichtig ist, jedes Mal ausdrücklich von Gott zu sprechen; manchmal kennt diese Person Gott nicht einmal. Das Entscheidende ist: Sie bringen Gott in die Familien der anderen Menschen. Und das ist für uns am wichtigsten: dass die Person ein guter Mensch ist. Wir haben sogar einen Begriff dafür: eine Caritas-Person.
Während der Covid-Zeit haben auch unsere orthodoxen Leute trotz des Ansteckungsrisikos weitergearbeitet ¨C weil die Kinder und die anderen Menschen Hilfe brauchten. Ich denke also: Das ist das Werk Gottes und das Werk der Caritas. Viele machen schöne Worte, aber sie tun nichts dafür. Und dann gibt es andererseits Menschen, die alles dafür tun ¨C das ist wichtig.¡°
Das Interview mit Anahit Mkhoyan führte, zusammen mit einigen weiteren Journalisten, unser Redakteur Stefan von Kempis. Er konnte im April 2025 an einer Recherchereise durch Georgien teilnehmen, die von ?Renovabis¡° organisiert wurde.
Die katholische deutsche Osteuropa-Solidaritätsaktion ?Renovabis¡° hat am vergangenen Sonntag in Berlin ihre Pfingstaktion eröffnet. Unter dem Motto ?Voll der Würde¡° will sie auf die Nöte der Menschen am östlichen Rand Europas aufmerksam machen. Am Pfingstsonntag, 8. Juni, wird in allen katholischen Kirchen für Renovabis-Projekte zugunsten der Menschen in Mittel-, Südost- und Osteuropa gesammelt. Mit ihrer Pfingstspende fördern Unterstützerinnen und Unterstützer konkrete Hilfsprojekte der Partner von Renovabis und stärken die Solidarität zwischen Ost und West.
(vatican news)
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