Bettler in Istanbul, Pfarrer in Tbilisi
Stefan von Kempis – Vatikanstadt
So hört es sich an, wenn Benny Beth Yadegar ?Frohe Ostern“ wünscht. Das Aramäische ist die Liturgiesprache seiner Gemeinschaft, der chaldäisch-katholischen Kirche. Die Sprache Jesu. Wenn Jesus heute zu ihnen nach Tbilisi käme, dann müsste er sich ein paar Wochen lang in ihre Sprechweise eingewöhnen, glaubt der ?Chorbischof“. Und dann könnten sie sich problemlos verständigen.
?Unsere Kirche hat eine sehr alte Tradition. Manche sagen – aber vielleicht ist das eher eine Legende –, dass der heilige Petrus noch am Leben war, als der heilige Thomas die Kirche im Osten gründete. Danach ging Thomas nach Indien und starb dort auch. Wie auch immer man das sehen mag: Die Tatsache, dass es eine sehr alte Kirche ist, ist sicher wahr.“
Eine Kirche der Flüchtlinge - und eine arme Kirche
Eine alte Kirche – aber keine große. Wahrscheinlich gibt es rund um den Globus noch nicht einmal eine Million chaldäisch-katholische Christen. Ihre Wurzeln liegen in Mesopotamien, bei den Assyrern. Aber wegen Verfolgungen in ihren ursprünglichen Heimatländern – Irak, Iran, Syrien, Türkei – haben sie sich vor gut hundert Jahren überallhin zerstreut. Auch nach Georgien. Hier leben einige Tausend von ihnen. Ausgangspunkt der letzten Massenflucht war Irak. ?In jüngster Zeit haben, nach dem Isis-Angriff, fast sechzig Prozent der chaldäisch-christlichen Bevölkerung den Irak in Richtung Europa, Amerika, Australien verlassen. Kurz gesagt, eine Massenauswanderung.“
Es ist also eine Kirche der Flüchtlinge, und daher eine eher arme Kirche. Auch in der Diaspora sitzen die katholischen Chaldäer zwischen allen Stühlen, fühlen sich unwillkommen. In Europa liegt das auch daran, dass sie keine eigenen Diaspora-Bistümer gründen dürfen. ?Ein Riesenproblem“, sagt dazu der Pfarrer der chaldäisch-katholischen Mission in Georgien. Andere Kirchen wüchsen in Europa, weil sie Strukturen aufbauen könnten; er nennt orthodoxe Kirchen als Beispiel. Seine Kirche hingegen hänge in Europa in der Luft, darum gingen ihr (in Deutschland, Frankreich, Belgien usw.) viele Gläubige von der Fahne und liefen namentlich zur römisch-katholischen Kirche über; auch die Zahl der Priester schrumpfe.
Ein Bischof für jedes Dorf
?Aber die setzen weiter Bischöfe ein im Nahen Osten – auch wenn das nur noch Dörfer sind, in denen vielleicht noch vierzig oder fünfzig Familien geblieben sind! Das hat auch damit zu tun, dass die Ostkirchen große Landbesitzer sind; das Land haben sie vor allem durch Erbschaften bekommen. Und um diese großen Gebiete zu behalten, brauchen sie einen Bischof – weil sonst die jeweilige Regierung denkt, sie könne sich das Land nehmen. Unter dem Motto: Das gehört niemandem. Wenn es keine Kirche gibt, gehört das dem Staat. Nur mal als Beispiel: Seit 2016 hat man schon mehrmals versucht, mich zum Erzbischof von Urmia im Iran zu ernennen. Aber ich sperre mich dagegen und sage denen immer: Findet mir jemanden, der mich hier ersetzt, dann gehe ich sofort! Aber es gibt eben keinen.“
Dabei kennt sich Benny im Iran aus: Er stammt von dort. ?Meine Kirche hat dort nicht die Erlaubnis, auf Persisch zu evangelisieren. Die persischen Iraner dürfen nicht verstehen, was wir sagen, denn sonst könnten sie ja vom Islam zum Christentum konvertieren, und das ist verboten!“
Von seiner Heimat Iran wie von anderen Ländern der Region zeichnet er ein düsteres Bild, was die Lage der katholischen Chaldäer betrifft: Sie würden drangsaliert, ihre Felder niedergebrannt, ihre Frauen vergewaltigt. ?Nach Georgien kamen viele Chaldäer, die im frühen 20. Jahrhundert während des Genozids an den Armeniern geflohen sind. Die sagten sich: Georgien und Armenien sind christliche Staaten, also können wir hierbleiben. Allerdings zwang man sie, zum orthodoxen Christentum überzutreten; Katholiken durften sie offiziell nicht mehr sein. Sie mussten auch die Traditionen in ihren Familien ändern, aber wir sind trotzdem froh, dass sie auf diese Art wenigstens Christen geblieben sind.“
Flüchtlinge sein, unerwünscht sein, wie auf der Durchreise – das prägt, sagt Benny. Das Gefühl begleite einen ständig, es gehe nie weg. ?Man spürt das die ganze Zeit hindurch. Wir leben zum Beispiel schon seit Jahrhunderten im Iran, und trotzdem fühlen wir uns bis heute nicht als Iraner! Weil die Mehrheitsgesellschaft uns dort zu verstehen gibt, dass wir keine Muslime sind und damit auch keine richtigen Iraner. Selbst die Chaldäer, die in Deutschland, in Europa, in Amerika sind, fühlen sich nie wie zu Hause. Sie denken immer: Eines Tages werde ich zurückkehren. Und dabei wachsen ihre Kinder schon mit einer ganz anderen Mentalität auf, und die alten Traditionen gehen allmählich verloren.“
Eine dramatische Lebensgeschichte
Früher einmal habe Europa auf die chaldäischen Christen sehr attraktiv gewirkt. Doch das hat sich geändert, sagt Benny: Liberale Abtreibungsgesetze oder gesellschaftliche Akzeptanz von LGBTQ in Europa kollidieren mit den orientalischen Werten der Einwanderer. ?Wenn sie heiraten wollen, reisen sie deshalb in den Iran oder in den Irak zurück, holen sich dort eine Frau und bringen sie mit nach Europa. Damit wollen sie die Familie retten, die Sprache beibehalten, ihre Tradition bewahren, wenigstens noch für zwanzig oder dreißig Jahre. So ähnlich halten es ja die Türken in Deutschland auch…“
Benny Beth Yadegar hat selbst eine dramatische Lebensgeschichte, wie viele seiner ?Schäfchen‘ in der georgischen Hauptstadt auch. Geboren wurde er 1342 in Urmia im Norden des Iran, nicht weit von der Grenze zur Türkei. 1342? Ja – das ist das persische Datum; für Europäer war es das Jahr 1963.
?In meinem letzten Jahr in der Ausbildung – ich machte eine Ausbildung als Physiotherapeut – begann der iranisch-irakische Krieg. Mein Bruder kämpfte in diesem Krieg und wurde verwundet, und die Muslime sagten: ?Ein Christ weniger, ein Hund weniger!‘ Die Iraner schickten die Christen ganz nach vorne an die Frontlinie; wenn sie vorwärtsgingen, wurden sie von den irakischen Gegnern getötet, wenn sie zurückgingen, wurden sie von den eigenen Leuten getötet. Einen Tag, nachdem mein Bruder verwundet worden war, kamen sie zu mir; ich wurde eingezogen und bekam ein Gewehr. Da habe ich meine Sachen zusammengerafft und bin über die Berge – das hat einen Monat gedauert – in die Türkei geflohen. Meine Waffe habe ich dort in den Van-See geworfen.“
Aber damit fing seine Odyssee überhaupt erst an. Die kurdisch-türkische Grenzpolizei griff ihn auf und steckte ihn ins Gefängnis. ?Über der Gefängnistür stand geschrieben: An diesem Ort hier gibt es Gott nicht. Das bedeutete, hier konnten sie mit einem machen, was sie wollten. Sie führten den Häftlingen Colaflaschen in den Hintern ein… und was sie mit den Frauen machten, das kann ich gar nicht sagen. Ich habe es zweimal geschafft zu entkommen. Einmal haben sie mich erwischt und wieder zurück ins Gefängnis gebracht. Aber ich bin ein Sturkopf; beim zweiten Fluchtversuch haben sie auf mich geschossen und an zwei Stellen auch getroffen, aber die Wunden waren anfangs nicht so schlimm, und ich konnte entkommen.“
Eine Prostituierte hat ihn gerettet
Benny strich Erde über die Einschuss-Stellen, um die Blutungen zu stoppen, doch die Wunden entzündeten sich. Als er nach vier Monaten Istanbul erreichte, konnte er kaum noch humpeln. Er lebte auf der Straße und bettelte um etwas zu essen. ?Aber eine Prostituierte hat mich gerettet. Sie nahm mich in ihr Haus auf, als sie hörte, dass ich Priester werden wollte. Sie arbeitete von acht Uhr abends bis vier Uhr morgens, aber wenn sie zu mir kam und sich um mich kümmerte, war sie wie eine Madonna gekleidet, wirklich. Sie kochte Reis, sie hat mich vier Monate hindurch gepflegt und nicht eine Lira dafür bekommen. Eine Muslimin. Ich liebe sie sehr, und ich bete ständig für sie!“
In Istanbul kam Benny in Kontakt mit der Gemeinschaft Sant'Egidio: Eine glückliche Wendung. Sie machte ihm ein Theologiestudium in Italien möglich; er wurde zum Priester geweiht und kam eher zufällig nach Georgien. Ursprünglich sollte der Aufenthalt nur drei Monate dauern, doch jetzt ist er schon seit dreißig Jahren in Tbilisi. ?Und ich bin sehr froh darüber, hier zu sein, ein Priester zu sein und mehr sozialen als geistlichen Dienst zu leisten.“ Damit zielt er darauf, dass der Pfarrer in einer ostkirchlichen Gemeinde viel mehr als nur Leiter von Gottesdiensten ist: Er ist auch sozialer Fixpunkt, eine Art Bürgermeister und Event-Veranstalter. Nicht nur bei den Chaldäern in Tbilisi ist das so, sondern überall im Orient, quer durch die Kirchen hindurch.
Die kleine Christin und der Imam Ali
Eigentlich hatte Benny Beth Yadegar zunächst Arzt werden wollen, aber dann lieber doch nicht – schließlich könnte ja mal ein Patient wegen einer Nachlässigkeit von ihm sterben, daran wollte Benny nicht schuld sein. Dann eben Physiotherapeut. Der Wunsch, Priester zu werden, war aber auch schon da, gleichzeitig. Die Grundidee war: Er wollte mit Menschen in Kontakt sein, Menschen retten. Das erste Mal, als er mit dem Gedanken des Priestertums spielte, war er noch ein Kind im Iran.
?Da gab es ein kleines Mädchen – ich weiß nicht mehr, wie sie hieß - in einem Dorf, in dem es keinen einzigen Christen gab. Nur eine einzige christliche Familie, ihre eigene nämlich. Und als ich einmal zu Besuch war, sah ich bei ihr an der Wand ein Bild von Ali, dem schiitischen islamischen Imam. Da sagte ich: Wer ist das denn?, und sie sagte: Das sei der Erlöser im Koran, darüber haben wir in der Schule gesprochen. Ich sagte: Aber du bist doch Christin! Und sie meinte: Ja, aber niemand erzählt uns etwas über Christus; ich habe noch nie etwas von ihm gehört. Da sagte ich: Na gut, dann werde ich später mal Priester, und dann werde ich dir erzählen, wer Christus ist! Ich war zwölf, und sie war zwischen sechs und acht; und sie meinte: Na gut, dann werde ich darauf warten! – Heute weiß ich, dass sie inzwischen eine Ordensfrau im Libanon ist, sie arbeitet dort mit alten Menschen in einem Krankenhaus – und ich bin Priester!“
Eine richtige Berufungsgeschichte hat der Pfarrer nicht vorzuweisen; er habe keine Stimme vom Himmel gehört. ?Ich glaube nicht an diesen Unsinn, ganz sicher nicht! Es ist eine Verantwortung. Eine Aufgabe, die man erfüllen muss. Ganz abgesehen davon, dass man nicht heiraten darf – das Entscheidende ist, dass man eine Arbeit leistet.“ Dazu gehört für ihn auch, dass er fast alle Möbel in seiner Kirche selbst gezimmert hat, in einer Werkstatt neben seiner Kirche.
Übrigens hat Benny auch jüdische Vorfahren; die Mutter seines Vaters, also seine Großmutter, habe einen Davidstern auf ihrer Stirn getragen, erinnert er sich, und Benjamin und Rachel – so heißt seine Schwester –, das seien ja jüdische Namen. Antisemitismus richtet sich, wie er betont, nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Chaldäer: ?Wir sind alle Semiten“.
Die Bedürftige nahm die Kartoffeln - und rief ein Taxi
Seine Gemeinde besteht aus etwa 2.000 Menschen; den aktiven Kern davon bildeten etwa 150 Personen. ?Viele können nicht mit der ganzen Familie kommen, weil sie nichts Ordentliches zum Anziehen haben, vor allem aber weil sie kein Geld für den Bus haben. Eine fünfköpfige Familie muss zwanzig Lari ausgeben, um jede Woche sonntags zu kommen; das sind achtzig Lari im Monat, so viel haben sie nicht. Also haben wir einen Minibus, der über die Dörfer fährt und die Leute hierhinbringt.“ Die Chaldäer in Georgien seien keine reichen Leute: ?Das heißt, im Vergleich zum Sudan oder zum Jemen sind wir sehr reich, aber verglichen mit, sagen wir mal, dem sozialen Leben hier in Georgien nicht. Und selbst wer ein bisschen Geld zuhause unter der Matratze hat, hält es lieber zusammen für die Tage, wo mal jemand krank wird oder so.“
Für die Kirche spende kaum jemand; er bekomme sein Geld von Organisationen wie dem deutschen ?Renovabis‘ oder von chaldäischen Diözesen in den USA. Benny gibt – das ist eine der sozialen Aktionen seiner Kirche – 520 Bedürftigen für sechs Monate Lebensmittelhilfen; dabei sei ihm klar, dass auch Schmarotzer unter den Begünstigten seien. Einmal sei eine Frau gekommen, um für fünf Lari Kartoffeln abzuholen; kaum habe sie den Sack in Händen gehabt, habe sie per Handy ein Taxi gerufen, um wieder abzufahren.
Über die religiösen Gefühle der Menschen in seiner Gemeinschaft macht sich Pfarrer Benny keine Illusionen; den meisten gehe es in erster Linie um das Soziale, um die Gemeinschaft, die verbindende Kultur. Darum, mit anderen zu plaudern. In der Kirche gehe man auf einen Sprung vorbei, weil das dazugehöre, aber das Eigentliche sei der Kaffeklatsch. ?Eine soziale Gemeinschaft, die sich trifft. Da geht es nicht so sehr um den Glauben wie vielleicht in einer Pfarrei in Europa. Ich will darüber nicht urteilen, aber ich sehe das.“
Der Hass der orthodoxen Nachbarn
Die Anfänge seiner Gemeinschaft in Tbilisi, kurz nach dem Fall des kommunistischen Systems, hat Benny Beth Yadegar als ausgesprochen schwierig in Erinnerung. Es habe damals ?viel Propaganda gegen die katholische Minderheit“ gegeben. ?Als wir zum Beispiel die Kirche hier eröffneten, waren mehr als 200 georgische Orthodoxe da, die sagten: Ihr seid Ketzer, haut ab! Als wir die Kirche einweihen wollten, hatten sie das Portal mit Ketten verriegelt, und wir mussten die Polizei rufen, damit die uns das Tor öffnet. Das war wirklich beschämend, weil auch der Patriarch (aus dem Irak) dabei war. Den haben sie zunächst nicht in die Kirche gelassen…“
Heute seien die innerchristlichen Beziehungen in dieser Hinsicht etwas besser. Doch viele chaldäische Katholiken ?schämen sich ein bisschen“ ihres Glaubens in einem mehrheitlich orthodoxen Umfeld, merkt Benny. ?Man versteckt sich ein bisschen“, sagt er. Und wenn jemand aus seiner Gemeinde eine orthodoxe Christin heiraten wolle, müsse er sich noch einmal taufen lassen, und zwar orthodox. ?Die fragen uns immer: Seid ihr katholisch, oder seid ihr Christen? Aber dadurch, dass junge Leute studieren und in Kontakt zu Europa stehen, haben sich die Dinge etwas beruhigt. Allerdings werden Fälle von Kindesmissbrauch in den Medien stark aufgeblasen; wenn es ein Fall war, machen sie tausend daraus.“
Eine assyrische Trutzburg
Die Regierung gebe den christlichen Kirchen Hilfen aus ihrem Haushalt – sehr viele für die staatstragende orthodoxe Kirche, immerhin ein bisschen auch für die anderen Konfessionen. Für Benny ist das allerdings nur ein Tropfen auf den heißen Stein: Er müsse ?Steuern, Wasser, Licht, alles“ zahlen. Die Orthodoxie hingegen sei von der Steuer befreit.
Rund um die Kirche, die ein wenig einer assyrischen Trutzburg ähnelt, wird derzeit fleißig gebaut. In unmittelbarer Nähe soll ein 35-stöckiges Hochhaus entstehen. Das chaldäisch-katholische Gelände wird dadurch noch mehr wie ein Fremdkörper in Tbilisi wirken. Etwas, das Jahrtausende alt ist, aber irgendwie nicht in die moderne Welt zu gehören scheint. Wenn Jesus heute in die georgische Haupstadt käme, dann könnten sie ihm – in seiner eigenen Sprache – einiges erzählen…
Die katholische deutsche Osteuropa-Solidaritätsaktion ?Renovabis“ hat am vergangenen Sonntag in Berlin ihre Pfingstaktion eröffnet. Unter dem Motto ?Voll der Würde“ will sie auf die Nöte der Menschen am östlichen Rand Europas aufmerksam machen. Am Pfingstsonntag, 8. Juni, wird in allen katholischen Kirchen für Renovabis-Projekte zugunsten der Menschen in Mittel-, Südost- und Osteuropa gesammelt. Mit ihrer Pfingstspende fördern Unterstützerinnen und Unterstützer konkrete Hilfsprojekte der Partner von Renovabis und stärken die Solidarität zwischen Ost und West.
(vatican news)
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