Philosoph Giovanni Maio: „Wir brauchen eine Kultur der Sorge“
Prof. Dr. Giovanni Maio ist Arzt, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik/Bioethik. Das Thema der Verletzlichkeit ist ihm damit nicht nur als Philosoph ein Begriff. Vor dem von Maio herausgegebenen Sammelband „Der verletzliche Mensch" (Herder, 2025), in dem ein Aufsatz von Maio zur Verletzlichkeit des Kindes erschien, legte der Autor 2024 bereits ein Buch zur „Ethik der Verletzlichkeit" vor. Darin legte er dar, dass Verletzlichkeit und Angewiesenheit - trotz aller Autonomiebestrebungen des Menschen - zu den wesentlichen Elementen menschlicher Existenz gehören. Hier zeigen sich viele Anknüfungspunkte zur katholischen Soziallehre und zum Aufruf einer „Kultur der Sorge“ , für die Papst Franziskus vielfach geworben hat.
Interview
Herr Professor Maio, warum ist es lohnenswert, gerade heute über die „Ethik der Verletzlichkeit“ nachzudenken?
Prof. Dr. Giovanni Maio: Mir war es wichtig, das Kindsein in den Blick zu nehmen, weil wir die Angewiesenheit des Menschen realisieren können, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass wir alle nur über die Phase des Kindseins zu Erwachsenen geworden sind. Das Kindsein zeigt auf, was der Mensch an sich ist: ein von Grund auf angewiesenes Wesen, das ohne das Zutun anderer überhaupt nichts hätte machen können. Deswegen ist die Beschäftigung mit dem Kindsein so spannend.
Es geht in der katholischen Soziallehre um Menschenwürde, Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität – vor allem im Hinblick auf die gesellschaftliche Bewältigung von Krisen. Nun ist die Verletzlichkeit von Menschen und damit besonders auch die Verletzlichkeit von Kindern und von alten Menschen in diesem Kontext nicht abgewertet, sondern hat ihren festen Platz. Worin liegt denn die besondere Würde der Verletzlichkeit?
Maio: Die Würde der Verletzlichkeit ist ein schöner Ausdruck, denn in der Tat erkennen wir das eigentliche Wesen einer Sache gerade im Moment der Vergegenwärtigung der Verletzlichkeit dieser Sache. Wenn wir sehen, dass eine Sache verletzlich ist, erkennen wir sie in einer besonderen Weise, weil wir sie dann in ihrem Wesen erkennen. Die Verletzlichkeit ist eine besondere Form, auf die Welt zuzugehen.
Wenn wir die Welt als verletzlich ansehen, dann nehmen wir sie wahr in ihrer eigentlichen Essenz, indem wir das Bedrohliche genauso erkennen wie das Potenzial, das in der Verletzlichkeit verankert ist. Deswegen müssen wir uns lösen von den Vorstellungen, dass der Mensch vom Grund auf autonom und selbständig ist, sondern wir müssen den Menschen zunächst einmal als ein verletzliches Wesen betrachten, das eine Kultur der Anerkennung, eine Kultur der Sorge braucht, um dann überhaupt erst autonom und selbstmächtig werden zu können.
In Ihrem Beitrag für den Sammelband ,Der verletzliche Mensch' legen Sie dar, was die besonderen Stärken des Kindseins sind in seiner Art und Verfasstheit zur Welt. Können Sie diese Besonderheiten, dieses Potenzial für uns noch einmal kurz skizzieren?
Maio: Mir geht es darum, das Spezifische des Kindseins in den Mittelpunkt zu stellen. Wir neigen dazu, das Kindsein eher als eine Vorstufe zum Erwachsenensein zu betrachten, das Kindsein als eine Durchgangsepisode zum Eigentlichen: Man ist sozusagen nur vorübergehend Kind und wird dann zum Eigentlichen, zum Erwachsenen.
Diese Perspektive halte ich für falsch, weil das Kindsein einen eigenen Wert hat. Insofern ist das Kind eine Person aus eigenem Recht mit einem intrinsischen Wert, einer Lebensphase, die in sich wertvoll ist, weil sie mit besonderen Fähigkeiten verbunden ist. Das Kind ist deswegen etwas ganz Besonderes, weil es Dinge kann, die Erwachsene nicht so gut können: staunend auf die Welt gehen, spielerisch mit der Welt umgehen und eine Neugier entfalten. Es ist die Aufgeschlossenheit, die Unvoreingenommenheit im Umgang mit der Welt, was das Kind ausmacht. Es lebt uns vor, wie wir eigentlich auf die Welt zu gehen lernen sollten: unvoreingenommen und grundneugierig.
Das können wir von den Kindern lernen. Wir als Erwachsene müssen Kinder staunender in Empfang nehmen – nicht dazu tendieren, sie frühzeitig auf eine Vorstellung zu eichen, die eine Vorstellung der Erwachsenen ist, aber nicht die der Kinder.
Es ging jetzt schon um das Gegenüberstellen oder vielmehr das Zusammendenken von Kindern und Erwachsenen. Inwiefern ist ein Kind denn verletzlicher als jeder andere Mensch – oder zeigt das Leid auf der Welt, kollektiv oder individuell, dass Verletzlichkeit eigentlich auch eine anthropologische Kategorie ist?
Maio: Ja, in der Tat ist Verletzlichkeit eine anthropologische Kategorie. Das ist meine Grundüberzeugung. Wir müssen die Verletzlichkeit als etwas sehen, was alle Menschen miteinander verbindet.
Es gibt keinen Menschen, der sich davon ausnehmen kann: aus dieser Grundsignatur, verletzlich zu sein. Aber Kinder sind in besonderer Weise verletzlich: spezifisch, weil sie in einer Phase sind, in der sie das Entwicklungspotenzial haben.
Das Potenzial, sich weiterzuentwickeln, diese Energie, diese Dynamik, sich zu entfalten – das ist das, was das Kindsein ausmacht. Aber dieses Entwicklungspotenzial macht das Kind zugleich auch verletzlich, denn wenn sich niemand um das Kind kümmert, wenn das Kind nicht auf gute Bedingungen stößt, dann wird das Kind sich nicht zu dem entwickeln, zu dem es sich hätte entwickeln können – sondern nur dann, wenn es auf gute Bedingungen stößt. Diese guten Bedingungen sind vor allen Dingen gute Beziehungen, gute Begegnungen.
Das Kind braucht vor allen Dingen Liebe: Es muss geliebt von den anderen geliebt werden, es muss anerkannt werden, es muss gelobt werden, es muss unterstützt und gesehen werden in diesem eigenen Wert. Wenn das Kind in dieser Besonderheit nicht gesehen wird, dann wird es verletzt, weil es daran gehindert wird, sich zu entfalten. Das hat mich angetrieben, über das Kindsein näher nachzudenken. Kindsein ist für mich geradezu ein Prototyp von Verantwortung.
Wenn wir über das Kindsein nachdenken, erkennen wir sofort, dass wir daran beteiligt sind, wie das Kind sich entwickelt. Das, was aus dem Kind werden wird, hat mit uns zu tun. Wir sind Miturheber dessen, was aus dem Kind werden wird. Deswegen tragen wir Verantwortung dafür, den Kindern die bestmögliche Unterstützung mitzugeben. Das heißt nicht, dass wir sie frühzeitig eichen auf etwas, was wir für gut für sie halten, sondern indem wir neugierig bleiben auf das Kind selbst und die Potenziale in dem Kind – um ihm das zu ermöglichen, wozu es von sich aus fähig ist.
Ohne diese Binarität zwischen Kindern und Erwachsenen ständig zu wiederholen: Was können wir „Erwachsene“ denn jenseits von unserem Handeln gegenüber Kindern von Kindern lernen, von ihrer Offenheit oder von ihrer Vorurteilsfreiheit?
Maio: Wir können von Kindern lernen, dass sie grundoffen sind für die Welt und sie nicht im Vorhinein schon festgelegt haben. Sie blicken eben nicht nur zweckrational auf die Welt wie wir Erwachsene machen, indem wir die Welt unter der Perspektive betrachten, was wir aus ihr machen können.
Das Kind betrachtet die Welt anders. Es erschließt sich den Zugang zur Welt, bleibt offen für das, was die Welt dem Kind bietet. Insofern können wir uns von ihnen eine Vorbehaltlosigkeit abschneiden, die die Kinder uns vorleben, und einen kreativen Umgang mit der Welt: diesen Erfindungsreichtum und diese Disposition des Kindes, einfach vertrauend auf die Welt zuzugehen, im Sinne eines Homo ludens und nicht eines Homo fabers; das ist das, was wir von dem Kind lernen können.
Wie wir wissen, hatte auch Jesus ein besonderes Verhältnis zu Kindern, deren Würde er in einer Zeit betont hat, in der das nicht selbstverständlich war. Verstehen unsere westlichen Gesellschaften, ja vorgeben, Kinderrechte zu schützen, tatsächlich, wer Kinder eigentlich sind und welche Würde sie haben?
Maio: Ich finde, dass unsere Gesellschaft durchaus Nachhilfe braucht. Kinderrechte sind wichtig, aber wir können das, was wir Kindern schulden, nicht allein in Rechten abbilden. Wir schulden ihnen eine Liebe, die sich dadurch zum Ausdruck bringt, dass wir dem Kind gegenüber selbst staunend gegenübertreten. Das müssen wir neu lernen: zu staunen, was in dem Kind alles steckt, und dem Kind eher eine Grundermöglichung mitzugeben, statt sie auf das zu fixieren, was wir denken, das gut für sie wäre.
Unsere moderne Gesellschaft neigt dazu, das Kind so zu behandeln, als wäre es ein kleiner Erwachsener. Das ist ein Fehler. Deswegen sollten nicht wir Erwachsene darüber bestimmen, was aus dem Kind werden soll, sondern dem Kind Entfaltungsräume schenken, indem das Kind Schutzräume erhält. Denn Kinder leiden, wenn sie mit einem Erwartungsdruck von außen konfrontiert werden; sie leiden darunter, wenn sie geeicht werden, zu früh festgelegt werden, was aus ihnen werden soll und dieser Erwartungsdruck, der vielfältig ist, kommt auch von der Gesellschaft, von den Eltern – aber er kommt natürlich auch von den Peergroups, er kommt von den anderen Kindern. Wir müssen den Kindern etwas schenken, was sie unbedingt brauchen: Zutrauen und Vertrauen. Dass wir den Kindern vertrauen, dass sie es schon machen und ein Zutrauen ihnen mitgeben in die eigenen Fähigkeiten – das muss die Gesellschaft neu lernen.
Es geht neben Kindern auch um Kranke und Alte, die verletzlich sind. Papst Franziskus etwa hat seine eigene Verletzlichkeit am Lebensende nicht versteckt, sondern transparent gezeigt, es gab täglich medizinische Updates aus dem Krankenhaus. Aber auch während seines Pontifikats hat er einige Entscheidungen revidiert und ist mit eigenen Fehlern offen umgegangen. Es ging jetzt viel um Verletzlichkeit als Würde, aber inwiefern ist Verletzlichkeit denn auch eine Stärke?
Maio: Das ist ein sehr schöner Gedanke, weil das in der Tat meine Überzeugung ist, dass sich Verletzlichkeit eben in diesem Schwebezustand zwischen Bedrohung und Ermöglichung bewegt. Der Mensch ist verletzlich, dadurch kann er jederzeit verletzt werden – aber weil er verletzlich ist, kann auch so viel aus ihm werden. Durch seine Verletzlichkeit hat er eine Ressource in sich: die Ressource, die Welt wahrzunehmen und sich von der Welt ansprechen zu lassen.
Nur weil wir verletzlich sind, sind wir affizierbar, sind wir ansprechbar durch die Welt, von der Welt. Weil wir ansprechbar bleiben, können wir uns auch in unserer Persönlichkeit weiterentwickeln. Wollten wir unverletzlich sein, dann müssten wir uns ein Panzer zulegen.
Dieser Panzer würde uns vielleicht ein bisschen schützen, aber in diesem Panzer würden wir verkümmern und erstarren. Der Mensch bleibt eben in Entwicklung, weil er verletzlich ist. Deswegen ist die Perspektive auf die Verletzlichkeit des Menschen für mich ein Appell, für eine Kultur der Sorge einzustehen.
Wir brauchen Sorgekulturen, damit Menschen, die verletzlich sind, eben nicht verletzt werden, sondern eine Entfaltungsmöglichkeit, eine Entwicklungschance erhalten, indem durch die Sorgekultur aus der Verletzlichkeit eine Ressource wird. Es hängt an uns, ob Menschen verletzt werden oder ob sie sich in ihrer Verletzlichkeit in einer Fortentwicklung befinden. Es hängt an den Sorgekulturen.
So wie wir beim Kind sagen können, das Kind wird aufblühen, wenn sich Menschen finden, die sich um das Kind kümmern, so ist es eben auch mit Erwachsenen, mit alten Menschen, mit kranken Menschen. Diese kranken Menschen werden plötzlich durch die Krankheit aus den Vorstellungen darüber herauskatapultiert werden, was bisher normal war, aus dem Rahmen der Normalität. Wenn diese Menschen nicht auf eine Anerkennungskultur und auf eine Sorgekultur stoßen, dann verzweifeln sie und geben sich auf.
Wir brauchen eine Kultur der Sorge, damit Menschen, die eben durch Krankheit in eine Krisensituation geschlittert sind, einen neuen Lebensmut entwickeln. Die Kultur der Sorge kann helfen, dass Menschen auch die Krankheit nicht als Abbruch des guten Lebens, sondern als Durchbruch zu einem neuen Leben wahrnehmen können. Das hängt daran, wie sehr wir in eine Kultur der Sorge investieren.
Kultur der Sorge, „Verantwortung“, darüber schreiben Sie auch – es ist klar geworden, dass für Ethik und Theologie auch letztlich eine besondere mitmenschliche und gesellschaftliche Verantwortung aus der Verletzlichkeit folgt. Was folgt denn ethisch und vor allem praktisch für Kirche, Gesellschaft und Politik neben diesem Menschenbild als Handlungsmaxime?
Maio: Im Hinblick auf die Kinder: Wir brauchen Kulturen, die verhindern, dass Kinder in einen Zustand der seelischen Obdachlosigkeit hineinschlittern. Was für Kinder gilt, gilt für alle Menschen: Wir müssen Menschen davor bewahren, dass sie in ein Gefühl der seelischen Obdachlosigkeit verfallen, in dem Sinne, dass sie vereinsamen und verzweifeln, weil sie sich alleine und der Welt im Grunde nicht mehr zugehörig fühlen.
Viele Menschen fühlen das, wenn sie krank geworden sind, wenn sie Gebrechen haben, wenn sie abhängig sind, angewiesen sind auf die Hilfe Dritter. Wir brauchen, um eine menschliche Gesellschaft tatsächlich zu verwirklichen, das Signal von innen und von außen, dass die Menschen, die gebrechlich oder pflegebedürftig sind, in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden, weil wir uns für diese Menschen interessieren, weil diese Menschen uns etwas zu sagen haben. Wir müssen auf diese Menschen hören, die Sprache dieser Menschen neu erkennen.
Sie sagen uns etwas, indem sie ein Leben vorgelebt haben. Wir müssen eine Anerkennungskultur fördern, durch die wir deutlich machen, dass wir diesen Menschen, die jetzt pflegebedürftig sind, viel zu verdanken haben, weil sie uns etwas vorgelebt haben und jetzt uns immer noch viel zu geben haben. Wir müssen nur auf sie hören.
Denken Sie an die Demenzpatienten. Wir dürfen sie nicht einfach in Spezialeinrichtungen delegieren, sondern müssen sie zurückholen in die Mitte der Gesellschaft, mit ihnen gemeinsam leben und anerkennen, dass sie uns immer noch etwas zu sagen haben, auch wenn sie nicht mehr mit uns reden können. Aber sie sagen uns etwas.
Diese Kultur der Sorge ist die einzige Antwort auf die Grundsignatur des Menschen: grundlegend angewiesen auf andere zu sein. Das verstärkt sich im Alter. Das ist in den jungen Jahren genauso verstärkt da, aber es bleibt das ganze Leben präsent: angewiesen zu sein auf andere, das bedeutet, dass wir nie Menschen im Stich lassen dürfen und vor allem nie gleichgültig sein dürfen anderen Menschen gegenüber.
Zum Autor
Giovanni Maio, Prof. Dr., ist Arzt, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik/Bioethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, und geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin.
Das Gespräch führte Luca Vazgec. Redaktion: Anne Preckel.
(vatican news - lv/pr)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.