Wortlaut: Papst Leo XIV. bei seiner Generalaudienz
Sämtliche Wortmeldungen des Papstes in ihrer offiziellen deutschen Fassung werden
Liebe Brüder und Schwestern,
im Herzen der Leidensgeschichte, im hellsten und dunkelsten Augenblick des Lebens Jesu, bietet uns das Johannesevangelium zwei Sätze, die ein großes Geheimnis umschließen: „Mich dürstet“ (19,28) und unmittelbar danach: „Es ist vollbracht“ (19,30). Es sind letzte Worte, und sie sind erfüllt von der Erfahrung eines ganzen Lebens und offenbaren den Sinn der gesamten Existenz des Sohnes Gottes. Am Kreuz erscheint Jesus nicht als siegreicher Held, sondern als Bettler um Liebe. Er verkündet nicht, er verurteilt nicht, er verteidigt sich nicht; demütig bittet er um das, was er aus sich selbst nicht geben kann.
Der Durst des Gekreuzigten ist nicht nur das physiologische Bedürfnis eines gequälten Körpers. Er ist auch und vor allem Ausdruck eines tiefen Verlangens: nach Liebe, nach Beziehung, nach Gemeinschaft. Es ist der stille Schrei eines Gottes, der, da er unser ganzes Menschsein teilen wollte, sich auch von diesem Durst erfüllen lässt. Ein Gott, der sich nicht schämt, um einen Schluck zu betteln – mit dieser Geste sagt er uns, dass Liebe, um wahr zu sein, auch lernen muss zu bitten und nicht nur zu geben.
Mich dürstet, sagt Jesus, und offenbart so seine und auch unsere Menschlichkeit. Keiner von uns ist autark. Niemand kann sich allein retten. Das Leben ist nicht „erfüllt“, wenn wir stark sind, sondern wenn wir lernen zu empfangen. Und genau in diesem Moment, nachdem er von Fremden einen in Essig getränkten Schwamm erhalten hat, verkündet Jesus: Es ist vollbracht. Die Liebe wurde bedürftig, und gerade deshalb hat sie ihr Werk vollendet.
Das ist das christliche Paradox: Gott rettet nicht, indem er handelt, sondern indem er an sich handeln lässt. Nicht indem er das Böse mit Gewalt besiegt, sondern indem er die Schwäche der Liebe voll und ganz annimmt. Am Kreuz lehrt uns Jesus, dass der Mensch nicht durch Macht seine Erfüllung findet, sondern durch vertrauensvolle Offenheit gegenüber anderen, selbst wenn sie uns feindselig und ablehnend gegenüberstehen. Erlösung liegt nicht in Autonomie, sondern darin, demütig die eigene Not zu erkennen und sie frei auszudrücken.
Die Erfüllung unserer Menschlichkeit in Gottes Plan ist kein Akt der Gewalt, sondern eine Geste des Vertrauens. Jesus rettet nicht durch eine dramatische Wendung der Ereignisse, sondern indem er um etwas bittet, das er allein nicht geben kann. Und hier öffnet sich eine Tür zu wahrer Hoffnung: Wenn selbst der Sohn Gottes sich dafür entschieden hat, nicht autark zu sein, dann ist unser Durst – nach Liebe, nach Sinn, nach Gerechtigkeit – kein Zeichen des Versagens, sondern der Wahrheit.
Diese scheinbar so einfache Wahrheit ist schwer zu akzeptieren. Wir leben in einer Zeit, die Selbstgenügsamkeit, Effizienz und Leistung schätzt. Doch das Evangelium zeigt uns, dass das Maß unserer Menschlichkeit nicht darin liegt, was wir erreichen können, sondern in unserer Fähigkeit, uns lieben und, wenn nötig, sogar helfen zu lassen.
Jesus rettet uns, indem er uns zeigt, dass Bitten nicht unwürdig, sondern befreiend ist. Es ist der Weg aus der Verborgenheit der Sünde, zurück in den Raum der Gemeinschaft. Von Anfang an hat Sünde Scham erzeugt. Doch wahre Vergebung kommt, wenn wir uns unserer Not stellen und keine Angst mehr vor Ablehnung haben.
Jesu Durst am Kreuz ist daher auch unserer. Es ist der Schrei der verwundeten Menschheit, die noch immer nach lebendigem Wasser sucht. Und dieser Durst entfernt uns nicht von Gott, sondern vereint uns mit ihm. Wenn wir den Mut haben, ihn anzuerkennen, können wir entdecken, dass selbst unsere Zerbrechlichkeit eine Brücke zum Himmel ist. Gerade im Bitten – nicht im Besitzen – öffnet sich ein Weg zur Freiheit, weil wir aufhören, so zu tun, als wären wir uns selbst genug. In der Geschwisterlichkeit, im einfachen Leben, in der Kunst, ohne Scham zu bitten und ohne Berechnung zu geben, liegt eine Freude, die die Welt nicht kennt. Eine Freude, die uns zur ursprünglichen Wahrheit unseres Seins zurückführt: Wir sind Geschöpfe, geschaffen, um Liebe zu geben und zu empfangen.
Liebe Brüder und Schwestern, im Durst Christi können wir unseren ganzen Durst erkennen. Und lernen, dass es nichts Menschlicheres, nichts Göttlicheres gibt, als zu wissen, wie man sagt: Ich brauche. Lasst uns keine Angst haben zu bitten, besonders wenn wir das Gefühl haben, etwas nicht zu verdienen. Schämen wir uns nicht, die Hand auszustrecken. Gerade dort, in dieser demütigen Geste, liegt das Heil verborgen.
(vatican news)
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