Wer ist mein Nächster? Papst Leo sagt: Jeder, auch der Fremde
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Das Sonntagsevangelium mit dem berühmten Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) stellt bis heute ein bequemes, rein äußerliches Religionsverständnis infrage, erklärte der Papst. Entscheidend sei der Blick auf den Anderen und wie dieser Blick das eigene Herz verändere.
„Man kann sehen und vorübergehen oder sehen und Mitleid empfinden“, sagte Leo XIV. wörtlich. Jesus erzähle von einem Mann, der von Räubern überfallen wurde und verwundet am Straßenrand liegen blieb. Während ein Priester und ein Levit aus der eigenen Gemeinschaft des Opfers gleichgültig vorbeigingen, habe ein Fremder – der Samariter – Mitleid gezeigt und geholfen. Genau das sei die Haltung, die Christen einüben sollten.
„Sehen, ohne vorüberzugehen, unsere geschäftige Eile anhalten, zulassen, dass das Leben des Anderen, wer auch immer er sei, mit seinen Bedürfnissen und Leiden mein Herz aufbricht – das macht uns füreinander zu Nächsten“, so der Papst. Die christliche Barmherzigkeit beginne nicht mit Kriterien der Zugehörigkeit, sondern mit der Bereitschaft, sich innerlich berühren zu lassen.
„Manchmal begnügen wir uns damit, einfach unsere Pflicht zu tun, oder wir betrachten nur diejenigen als unsere Nächsten, die zu unserem Umkreis gehören, die genauso denken wie wir, die dieselbe Nationalität oder Religion haben”, so Leo. Jesus aber kehre diese Sichtweise um. Mit dem Samariter stelle er als Modell christlichen Verhaltens einen „Fremden und Ketzer“ vor, „der sich zum Nächsten dieses verwundeten Mannes macht. Und er verlangt von uns, dasselbe zu tun.”
Wer ist mein Nächster - eine politisch relevante Frage
Mit seinen Worten griff Leo XIV. eine Debatte auf, die zu Beginn dieses Jahres in den Vereinigten Staaten Wellen geschlagen hatte. Damals hatte US-Vizepräsident J. D. Vance die Massenabschiebungen der US-Regierung mit einer religiösen Begründung verteidigt. Es sei christlich, „erst die eigene Familie zu lieben, dann den Nachbarn, dann die lokale Gemeinschaft, dann die Mitbürger, und danach erst den Rest der Welt zu priorisieren“, hatte der katholische Politiker argumentiert.
Der US-amerikanische Kurienkardinal Robert Prevost, heute Papst Leo XIV., widersprach damals öffentlich. Auch Papst Franziskus schaltete sich ein. In einem Brief an die US-amerikanische Bischofskonferenz empfahl er die Betrachtung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter. Diese Erzählung präsentiere die Liebe im christlichen Sinn, „die eine ausnahmslos für alle offene Geschwisterlichkeit“ aufbaue.
Papst Leo knüpfte an diesen Impuls seines Vorgängers an. Er verwies aber auch auf die Deutung von Papst Benedikt XVI. Dieser hatte in seiner Jesus-Trilogie geschrieben, der Samariter frage „nicht nach dem Radius seiner Solidaritätsverpflichtungen“, sondern es geschehe „etwas anderes: Das Herz wird ihm aufgerissen. Hätte die Frage gelautet: Ist auch der Samariter mein Nächster?, so wäre in der gegebenen Lage die Antwort ziemlich eindeutig Nein gewesen. Aber nun stellt Jesus die Sache auf den Kopf: Der Samariter, der Fremde, macht sich selbst zum Nächsten und zeigt mir, dass ich von innen her das Nächster-Sein erlernen muss und dass ich die Antwort schon in mir trage. Ich muss ein Liebender werden, einer, dessen Herz der Erschütterung durch die Not des anderen offensteht.“
Objekte der Nächstenliebe? Auch die Opfer ungerechter Politik
Ohne das Wort „Migranten“ zu nennen, verwies Papst Leo auf die Not Bedürftiger in jeder Lage, auch solcher, die Opfer ungerechter globaler Politik sind. Der Samariter sah den zusammengeschlagenen Mann auf dem Weg abwärts, nach Jericho, einer Stadt unter dem Meeresspiegel. Das, erklärte Leo, sei „der Weg vieler Völker, die entblößt, ausgeraubt und geplündert wurden, Opfer unterdrückender politischer Systeme, einer Wirtschaft, die sie in die Armut zwingt, des Krieges, der ihre Träume und ihr Leben zerstört.“
Papst Leo feierte die Sonntagsmesse in der Kirche S. Tommaso da Villanova in Castel Gandolfo. Zum Schluss überreichte er dem Pfarrer dieser päpstlichen Pfarrei als Geschenk eine Patene und einen Messkelch, „Werkzeuge der Gemeinschaft", die sich als Einladung verstehen, in Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit zu leben und „diese Gemeinschaft, die wir in Jesus Christus erfahren, wirklich zu fördern.“
In Castel Gandolfo verbringt Leo XIV. zwei Wochen Ferien. Auch Benedikt XVI. hatte während seiner Aufenthalte in der päpstlichen Sommerresidenz alljährlich dort eine Messe gefeiert, jeweils am 15. August, während Franziskus , auf die Nutzung des Anwesens aber konsequent verzichtete. Leo will die Messe zu Maria Himmelfahrt am 15. August in der Kathedrale von Albano feiern.
(vatican news – gs)
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