Syrien, quo vadis? Fragen an Erzbischof Mourad
„Wir halten weiter an der Hoffnung für die Zukunft unseres Landes und unserer Völker fest.“ Das sagt uns der syrisch-katholische Erzbischof von Homs, Jacques Mourad, in einem Interview.
„Natürlich sind die Zeiten, in denen wir uns befinden, heikel, denn Syrien befindet sich in einem Zustand der totalen Schwäche und des Chaos, vor allem was die Sicherheit betrifft. Das versetzt die Menschen in einen Zustand der Sorge, der Schwierigkeiten und der Angst. Mulmige Gefühle also – trotz der Freude über die Befreiung vom Assad-Regime, die wirklich die Herzen verändert und die uns neue Kraft und Hoffnung für die Zukunft eingeflößt hat.“
Gestern waren sie islamistische Rebellen im nordsyrischen Idlib – heute führen die HTS-Rebellen in der Hauptstadt die Zügel. An ihrer Spitze: Ahmed al-Sharaa, früherer Kampfname al-Golani, neuer „Übergangspräsident“, der sanftmütig auftritt, sich den Islamistenbart aber nicht abrasiert hat. Zu Beginn der Woche haben die neuen Herren in Damaskus eine zweitägige Konferenz namens „Nationaler Dialog“ durchgeführt; da wurde über die Übergangsjustiz gesprochen, die neue Verfassung, die Einheit des syrischen Territoriums. Die Empfehlungen der Konferenz sollen in einen Reformprozess einfließen. In Richtung der religiösen Gruppen im Land, auch der christlichen, ergehen beruhigende Signale.
„Sie haben uns bei einer Reihe von Gelegenheiten ihr Engagement und ihren Wunsch beteuert, dass wir Teil dieses neuen Syriens werden. Allerdings gibt es da eine Kluft zwischen dem, was sie sagen, und der Praxis, dem täglichen Leben. Da wird versucht, die Scharia und alle möglichen fanatischen Vorschriften durchzusetzen, und das spricht nicht dafür, dass es wirklich diesen Wunsch nach einem Syrien für alle gäbe. Eher nach einem Syrien nur für fanatische Muslime.“
Erzbischof Mourad warnt deutlich davor, den Sirenengesängen aus Damaskus zu erliegen. Dass die EU in den letzten Tagen angekündigt hat, einen Teil der seit 2011 geltenden Sanktionen im Banken-, Energie- und Transportsektor aufzuheben, freut natürlich auch die christliche Minderheit in Syrien, denn diesen Schritt hat sie seit Jahren gefordert. Einen Blankoscheck sollte man al-Sharaa allerdings nicht ausstellen. Der Versuch, in vielen Teilen Syriens jetzt islamisches Recht durchzusetzen, hat, wie Mourad uns erklärt, direkte Auswirkungen auf die Christen.
Kein Blankoscheck für den Ex-Rebellenführer
„Natürlich ist das so! Wenn sie zum Beispiel die Pflicht zum Tragen des Hidschab einführen, dann bedeutet das, dass alle Mädchen den Hidschab tragen müssen. Dabei widerspricht das völlig unserer Logik, unseren Gewohnheiten. Die Trennung von Männern und Frauen in Gebäuden, in staatlichen Strukturen, in Bussen, in öffentlichen Verkehrsmitteln – das funktioniert nicht! Aber sie haben das bereits durchgesetzt.“
Christen gibt es in Syrien schon seit der Antike; vor Ausbruch des Bürgerkriegs 2011 soll ihr Anteil an der Bevölkerung bei etwa zehn Prozent gelegen haben. Was ihre Teilhabe an der mehrheitlich muslimischen Gesellschaft von jeher schwächt, ist ihr Zerfall in eine Vielzahl verschiedener Konfessionen. Während der Assad-Diktatur wurden die Christen oft als staatsnah wahrgenommen: Das setzt sie jetzt der Gefahr aus, dass man sich an ihnen rächt.
Für eine Rückkehr der Flüchtlinge ist es noch zu früh
„Natürlich gab es Christen, die in einigen Dörfern Opfer von Gewalt wurden“, so der Erzbischof, „aber das ist nicht mit den Alawiten zu vergleichen.“ Vor allem gegen diese Gruppe, aus der der Assad-Clan selbst kam, richten sich jetzt Repressalien. Alles nur bedauerliche Begleitumstände des Übergangs, verübt von irgendwelchen Milizen, die weiter aktiv sind, oder steckt dahinter doch die neue Regierung? „Das ist noch nicht klar“, sagt der Erzbischof, „ich denke, dass es noch Zeit brauchen wird, bis die Dinge geklärt sind. Da es jedoch keine klare Trennung zwischen diesen Gruppen und der Regierung gibt, kann ich die Regierung für all diese Gewalttaten, insbesondere in unserer Region Homs, nicht von der Verantwortung dafür entlasten.“
Ein Klima der Unsicherheit und der sporadischen Gewalt, dazu das Fehlen eines funktionierenden Justizsystems: Das alles lässt eine Rückkehr der Millionen von Syrern, die ins Ausland geflohen sind, zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sehr angeraten erscheinen. „Es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, damit die Vertriebenen und Christen zurückkehren“, sagt Erzbischof Mourad. „Erstens brauchen wir einen Staat, der alle Gemeinschaften und Konfessionen repräsentiert, und zweitens brauchen wir eine stabile, klare und von allen akzeptierte Verfassung. Wenn die Verfassung auf dem islamischen Recht basiert, dann werden nur die Sunniten zurückkehren, aber nicht alle.“
Der Traum von einem funktionierenden Justizsystem
Auch das Justizwesen muss übrigens wieder funktionieren, damit christliche Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Ausland wieder daran denken können, in die syrische Heimat zurückzukehren. „Das bleibt ein Traum für uns - weil es in Syrien keine wirkliche Gerechtigkeit gibt. Es gibt immer diese Versuchung der Rache...“
Aber ganz will der Kirchenmann aus Homs seine Hoffnung nicht fahren lassen. Syrien sei doch in seiner Geschichte immer ein Beispiel für friedliche Koexistenz und Harmonie zwischen den Gemeinschaften, Ethnien und Religionen gewesen; das müsse auch in Zukunft so bleiben. „Trotz aller Schwierigkeiten, aller Herausforderungen, die es zu überwinden gilt und die die Spannungen ansteigen lassen“. Die Menschen seien „gut und großzügig“. „Und die Politik hat nicht die Kraft, die Herzen des syrischen Volkes zu verändern.“
Das Interview mit Erzbischof Mourad führte Jean-Charles Putzolu von Radio Vatikan.
(vatican news - sk)
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