Wortlaut: Papst Leo bei seiner Generalaudienz
Liebe Brüder und Schwestern,
heute beschäftigen wir uns mit einer Szene, die den Beginn der Passion Jesu markiert: den Moment seiner Verhaftung im Garten Getsemani. Der Evangelist Johannes präsentiert uns mit seinem gewohnten Tiefgang keinen verängstigten Jesus, der flieht oder sich versteckt. Im Gegenteil, er zeigt uns einen freien Mann, der vortritt und das Wort ergreift, der sich offen der Stunde stellt, in der sich das Licht der größten Liebe offenbaren kann.
?Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: ?Wen sucht ihr?‘“ (Joh 18,4). Jesus weiß es. Dennoch beschließt er, nicht zurückzuweichen. Er gibt sich hin. Nicht aus Schwäche, sondern aus Liebe. Aus einer Liebe, die so voll und so reif ist, dass sie keine Ablehnung fürchtet. Jesus wird nicht gefangen genommen: Er lässt sich gefangen nehmen. Er ist nicht Opfer einer Verhaftung, sondern Geber eines Geschenks. In dieser Geste verkörpert sich eine Hoffnung auf Erlösung für unsere Menschheit: zu wissen, dass man auch in der dunkelsten Stunde frei bleiben kann, um bis zum Äußersten zu lieben.
Als Jesus antwortet: ?Ich bin es“, fallen die Soldaten zu Boden. Es handelt sich um eine geheimnisvolle Passage, da dieser Ausdruck in der biblischen Offenbarung den Namen Gottes selbst aufruft: ?Ich bin“. Jesus offenbart, dass sich die Gegenwart Gottes gerade dort manifestiert, wo die Menschheit Ungerechtigkeit, Angst und Einsamkeit erlebt. Genau dort ist das wahre Licht bereit zu leuchten, ohne Angst, vom Vorrücken der Finsternis überwältigt zu werden.
Mitten in der Nacht, wenn alles zusammenzubrechen scheint, zeigt Jesus, dass die christliche Hoffnung keine Flucht ist, sondern eine Entscheidung. Diese Haltung ist das Ergebnis eines tiefen Gebets, in dem Gott nicht darum angegangen wird, uns vor dem Leiden zu bewahren, sondern uns die Kraft zu geben, in der Liebe auszuharren – im Bewusstsein, dass uns das Leben, das wir aus Liebe freiwillig hingeben, von niemandem genommen werden kann.
?Wenn ihr also mich sucht, dann lasst diese gehen“ (Joh 18,8). Im Moment seiner Verhaftung kümmert sich Jesus nicht darum, sich selbst zu retten: Er möchte nur, dass seine Freunde frei davongehen können. Dies zeigt (einmal mehr), dass sein Opfer ein wahrer Akt der Liebe ist. Jesus lässt sich von den Wachen festnehmen und gefangen nehmen, nur um seine Jünger in Freiheit zu lassen.
Jesus hat jeden Tag seines Lebens als Vorbereitung auf diesen dramatischen und erhabenen Moment gelebt. Deshalb hat er, als dieser Moment kommt, die Kraft, keinen Ausweg zu suchen. Sein Herz weiß genau, dass es kein Versagen ist, sein Leben aus Liebe zu verlieren, sondern dass dies eine geheimnisvolle Fruchtbarkeit besitzt. Wie das Weizenkorn, das, wenn es auf die Erde fällt, nicht allein bleibt, sondern stirbt und Frucht bringt.
Auch Jesus ist beunruhigt angesichts eines Weges, der nur zum Tod, zum Ende zu führen scheint. Aber er ist zugleich überzeugt, dass nur ein Leben, das aus Liebe verloren geht, am Ende wiedergefunden wird. Darin besteht die wahre Hoffnung: nicht darin, den Schmerz zu vermeiden, sondern daran zu glauben, dass selbst inmitten der ungerechtesten Leiden der Keim eines neuen Lebens verborgen ist.
Und wir? Wie oft verteidigen wir unser Leben, unsere Pläne, unsere Sicherheiten, ohne zu merken, dass wir dadurch allein bleiben. Die Logik des Evangeliums ist eine andere: Nur was man verschenkt, blüht auf, nur die Liebe, die umsonst ist, kann auch dort wieder Vertrauen schaffen, wo alles verloren scheint.
Das Markusevangelium erzählt uns auch von einem jungen Mann, der, als Jesus verhaftet wird, nackt davonläuft (Mk 14,51). Es ist ein rätselhaftes, aber sehr bewegendes Bild. Auch wir erleben in unserem Versuch, Jesus nachzufolgen, Momente, in denen wir unvorbereitet sind und unserer Gewissheiten beraubt werden. Das sind die schwierigsten Momente, in denen wir versucht sind, den Weg des Evangeliums zu verlassen, weil uns die Liebe wie eine unmögliche Reise erscheint. Und doch wird es am Ende des Evangeliums gerade ein junger Mann sein, der den Frauen die Auferstehung verkündet, nicht mehr nackt, sondern in ein weißes Gewand gekleidet.
Das ist die Hoffnung unseres Glaubens: Unsere Sünden und unser Zögern hindern Gott nicht daran, uns zu vergeben und uns von neuem den Wunsch einzuflößen, ihm wieder nachzufolgen und fähig zu werden, unser Leben für andere hinzugeben.
Liebe Brüder und Schwestern, lernen auch wir, uns dem guten Willen des Vaters anzuvertrauen und unser Leben zu einer Antwort auf das empfangene Gute zu machen. Im Leben muss man nicht alles unter Kontrolle haben. Es reicht, sich jeden Tag dafür zu entscheiden, in Freiheit zu lieben. Das ist die wahre Hoffnung: zu wissen, dass auch in der Dunkelheit der Prüfung die Liebe Gottes uns stützt und in uns die Frucht des ewigen Lebens reifen lässt.
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