Leo XIII.: Ein Papst der ?Neuerungen“
Christine Seuss - Vatikanstadt
Zugegebenermaßen, diese Kursänderung kam nicht ganz freiwillig. Leo XIII. folgte 1878 auf Papst Pius IX., der 1870 des Kirchenstaates verlustig ging, als die italienischen Bersaglieri unter der Führung von General Raffaele Cadorna mit der berühmten ?Bresche in der Porta Pia“ die päpstlichen Streitkräfte besiegten, Rom einnahmen und so die Einigung Italiens möglich machten. Seitdem war der Papst ein ?Gefangener im Vatikan“, sein Status unklar und seine Unversehrtheit bzw. Rückkehr bei einem Verlassen des Vatikans nicht garantiert.
Auf Papst Pius IX., der mit einer Dauer von 31 Jahren, 7 Monaten und 23 Jahren das bislang längste Pontifikat der Geschichte innehatte, folgte am 20. Februar 1878 Vincenzo Gioacchino Raffaele Luigi Pecci, der den Namen Leo XIII. wählte. Auch er konnte den Vatikan nicht verlassen, die ?Römische Frage“ sollte noch bis zu den Lateranverträgen von 1929 ungelöst bleiben. Doch anders als sein Vorgänger, der in der fragilen Situation des neuen Szenarios den Kontakt und die konstruktive Auseinandersetzung mit der Außenwelt scheute, machte es sich Leo XIII. zur Aufgabe, vermittelnd tätig zu werden und die Stimme der Kirche mit den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten über die Vatikanmauern hinaus zu tragen.
Sein Mittel zum Zweck waren die Enzykliken, also Apostolische Schreiben, derer er sage und schreibe 86 verfasste. Insbesondere der Einsatz der Kirche für soziale Gerechtigkeit wird in seiner Enzyklika Rerum Novarum von 1881 erstmals deutlich auch unter soziopolitischen Gesichtspunkten verfestigt - die Antwort aus dem Vatikan auf das Kommunistische Manifest von 1848. Damit sollte er auch über Kirchenkreise hinaus als ?Arbeiter“- und ?Sozialpapst“ bekannt werden. Diese Komponente des Leoninischen Denkens hatte Robert F. Prevost ganz besonders bei seiner Namenswahl im Blick, wie er anschließend vor den Kardinälen erläuterte.
Überparteilichkeit des Heiligen Stuhls
Doch es gibt auch andere Nuancen im Wirken Leo XIII., die die Namenswahl seines Nachfolgers im Papstamt rund 130 Jahre später logisch untermauern. Denn dieser Papst, der die Kirche in die Moderne trug, musste zunächst damit umgehen, dass er mit dem Verlust der weltlichen Macht im handfesten politischen Geschäft kaum tätig werden konnte. Neue Lösungen und auch Verhaltensweisen mussten her. Dies erkannte Leo XIII., indem er eine neue Art der Außenpolitik verfolgte, die den Papst und seine Nachfolger letztlich als moralische und überparteiliche Instanz etablieren sollte.
Während Pius IX. sich einigelte und insbesondere in seinem späten Pontifikat auf Konfrontationskurs ging, hatte sein direkter Nachfolger eine glücklichere Hand in heiklen politischen Fragen, beispielsweise, was den Kulturkampf in Preußen anging, aber auch die Verbesserung der Beziehungen des Vatikans zu ausländischen (und oft nichtkatholischen) Staaten wie Russland, England oder die USA – oder, sein Meisterstück, die Vermittlung zwischen Preußen und Spanien um die Karolinen, eine Inselgruppe im Pazifik.
Trotz teilweise reaktionärer Züge wie dem Versuch, den innerkirchlichen Zentralismus weiter auszubauen, fällt diesem Papst das Verdienst zu, dass die Kirche auch in der Moderne angekommen ist - allen sicherlich zu beanstandenden Unzulänglichkeiten und teils widersprüchlichen Schritten zum Trotz, siehe beispielsweise den ?Antimodernismuseid“, den Kleriker ab 1910 über mehrere Jahrzehnte zu leisten hatten.
Allgemein ist jedoch mittlerweile anerkannt, dass die Politik des Vatikans gerade nicht durch monetäre oder territoriale Interessen geleitet wird. In heutigen Zeiten kann sich die Kirche also, aufbauend auf dem Erbe Leo XIII., mit einer gewissen Autorität auch zu Fragen äußern, die mit der Lebenswirklichkeit der modernen Menschen in Zusammenhang stehen. Gerade ihre moralisch begründete Überparteilichkeit bedingt, dass sie als außenpolitischer Vermittler sehr ernst genommen wird.
Nähe zum Augustinerorden
Ebenso interessant an Leo XIII. ist seine - vor der Wahl des ersten Augustiners zum Papst kaum in den Blick gerückte Nähe - zu diesem Orden, dem Prevost seit 1977 als Novize angehört. Er sei ein ?Sohn des Augustinus“, sagte Papst Leo XIV. bei seinem ersten Auftritt auf der Mittelloggia des Petersdoms am 8. Mai 2025, ein roter Faden, der sich auch durch seine kommenden Ansprachen und Gesten zog. Nicht umsonst führte ihn sein erster ?Ausflug” nach der Wahl nach Genazzano, wo den Augustinern das Marienheiligtum der Mutter vom Guten Rat anvertraut ist – übrigens auch der Name der Chicagoer Provinz, in die Prevost in jungen Jahren eintrat und die er später, von 1999 bis 2001, auch leiten sollte, bevor er für eine zweimalige Amtszeit als Generaloberer des weltumspannend tätigen Ordens gewählt wurde. Dieser zählt derzeit rund 2.800 Angehörige, viele von ihnen in Europa und Lateinamerika.
Leo XIII. wiederum stammte aus Carpineto bei Rom, nicht weit entfernt von der Wallfahrtsstätte, die sein Namensnachfolger am vergangenen Samstag aufgesucht hatte. Dort wurde Gioacchino Pecci im Jahr 1810 in einer Situation geboren, in der die französischen Besatzer die Niederschlagung religiöser Orden angeordnet und auch die Beschlagnahmung des nahe gelegenen Augustiner-Konvents in seinem Heimatort verfügt hatten, zu dem die Adelsfamilie stets eine gute Beziehung hatte. Im Pontifikat von Leo XIII. konnten die Augustiner schließlich wieder in ihr angestammtes Quartier in Carpineto zurückkehren. Als Kind besuchte der spätere Papst oft auch die Wallfahrtsstätte in Genazzano. Das antike Gnadenbild der Gottesmutter, das dort verehrt wird, lag ihm sehr am Herzen, auch wenn er es als Papst nie wieder besuchen konnte. Zuvor, noch in seiner Jugendzeit, war Gioacchino Pecci mit seiner Familie nach Rom übergesiedelt, wo er – das verriet Kardinal Ladislav Nemet in einem Fernsehinterview kurz nach der Wahl – eine Pfarrei frequentierte, die von Augustinern geführt wurde.
Von Kindheit an eine gute Beziehung
Diese Verbindung mit dem Orden sollte er auch als Papst nicht verlieren. Sein Beichtvater war der Augustiner Guglielmo Pifferi, den er 1887 zum Titularbischof von Porfirio und Sakristan des Apostolischen Palastes machte. Auf dessen Vorschlag hin nahm Leo XIII. nur wenige Monate vor seinem Tod 1903 in die Lauretanische Litanei die Anrufung auf: ?Mutter vom Guten Rat, bitte für uns“. Die Verehrung der Mutter vom Guten Rat war den Augustinern damals wie heute teuer; das den Augustinern anvertraute Heiligtum von Genazzano, das Prevost auch nach seiner Wahl zum Generaloberen des Ordens und bei weiteren Gelegenheiten aufgesucht hatte, ist ihr geweiht. Dass die Zuneigung von seinem Namensvorgänger Pecci zu dem Ort auch als Papst ungebrochen war, wird auch daran deutlich, dass dieser die Stätte 1902 auch noch um ein Stockwerk zur Unterbringung der Beichtväter erweitern ließ und die Kirche 1903 zur ?Basilica minor“ erhob.
Leo XIII. war es auch, der die Augustiner aus der Krise holte, in die sie und andere Ordensgemeinschaften während der französischen Unterdrückung und späteren Säkularisierung im neuen geeinten Italien geraten waren. So rief er mit Antonio Pacifico Neno einen bewährten Pater aus der jungen, aber blühenden Provinz in Amerika nach Rom zurück, um den Wiederaufbau des Ordens zu leiten. Auch berief er mehrere Augustiner zu Kardinälen: Luigi Sepiacci, Agostino Ciasca und Sebastiano Martinelli. Letzterer, der 1901 Kardinal wurde, war einige Jahre zuvor zum apostolischen Delegaten in den Vereinigten Staaten von Amerika ernannt worden – ein Land, das das besondere Interesse von Papst Leo XIII. erregt hatte und dem er mit dem Schreiben Longinqua oceani von 1895 auch eine Enzyklika widmete. Dies könnte vielleicht sogar eine weitere Inspiration für die Namenswahl von Leo XIV., den ersten US-Amerikaner auf dem Papstthron, darstellen.
Heilige und Kardinäle
Doch nicht nur Kardinäle, auch durch Leo XIII. zur Ehre der Altäre erhobene Heilige kamen aus dem Augustinerorden: Klara von Montefalco wurde 1881 von Papst Leo in die Liste der Heiligen aufgenommen, im folgenden Jahr sprach er dann den Priester und Mystiker Alonso de Orozco selig (der später im Jahr 2002 von Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde). Und schließlich die berühmteste und meistverehrte Heilige des gesamten Ordens: Rita von Cascia, die am 24. Mai im Jubiläumsjahr 1900 heiliggesprochen wurde. Am darauffolgenden 7. Oktober 1900 wurden die sterblichen Überreste des heiligen Augustinus nach mehr als einem Jahrhundert ?vorübergehender“ Zuflucht dort von der Kathedrale von Pavia wieder in die restaurierte Basilika San Pietro in Ciel d'Oro überführt. Diese liegt zwar auch in Pavia, war 1796 aber durch französische Truppen entweiht und geplündert worden.
Eine dezidierte Haltung des Dialogs und des politischen Geschicks angesichts widriger äußerer Umstände, ebenso wie die tiefe Verbindung zum Augustinerorden, die Papst Leo XIII. vor über 100 Jahren charakterisierte – letztlich ist die Wahl des Papstnamens von Robert F. Prevost, die der Welt mit den Worten ?qui sibi nomen imposuit Leonem XIV.” angekündigt wurde, vielleicht doch nicht so überraschend.
(vatican news)
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