Weltsynode: Theologin sieht neue Geschlechterverhältnisse im Schlussdokument
„Das ist ein Umdenken hin zu einem Beziehungsdenken, weg von einer strukturellen Hierarchisierung der Geschlechter", sagte Bär der Nachrichtenagentur Kathpress (Freitag). Betont werde nun die wechselseitige Beziehung von Menschen, anstelle einer starren Geschlechterordnung, so die Vorsitzende des Theologinnen-Netzwerks AGENDA. „Der Begriff bietet die Chance, asymmetrische Machtverhältnisse in kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen kritisch zu hinterfragen" und könne eine Abkehr von Geschlechterstereotypen einläuten.
Reziprozität tauche zwar an mehreren Stellen des Schlussdokuments der kirchlichen Versammlung auf, sei aber bis dato kaum theologisch rezipiert worden, so Bär, die auf eine hier bestehende Forschungslücke verwies. Besonders lateinamerikanische Synodenteilnehmerinnen und -teilnehmer sollen sich für Reziprozität anstelle von Komplementarität starkgemacht haben. Eine Grundlage dafür sieht Bär in der Amazonien-Synode 2019, in deren Abschlussdokument bereits von „Gegenseitigkeit im sozialen Miteinander ('Reziprozität')" die Rede war. Auch das Konzept einer wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Natur spiele eine Rolle.
„Komplementarität" bedeutet in etwa „wechselseitige Ergänzung“. Der Begriff war in bisherigen lehramtlichen Dokumenten häufig verwendet worden, um die Beziehung zwischen Mann und Frau als einander ergänzend und vorgegeben zu definieren. Teilweise habe der Ausdruck „Komplementarität" auch Geschlechterstereotype legitimiert, erläuterte Bär. Feministische Theologinnen kritisierten dies bereits seit Langem.
Mit dem Wechsel zur „Reziprozität" werde nun ein Begriff eingeführt, der die wechselseitige Beziehung auf Augenhöhe betont, ohne Zuschreibungen von geschlechtsspezifischen Eigenschaften und Rollen, erklärte Bär weiter. „Es geht mehr darum, wie man eine Beziehung lebt und gestaltet, weniger um eine Hierarchie oder gar Abhängigkeit", so die Theologin.
„Ein neuer Begriff schafft noch keine neue Wirklichkeit", merkte die Leiterin des Instituts für Systematische Theologie und Liturgiewissenschaft jedoch an. Solange stereotype Geschlechtervorstellungen in Kirche und Gesellschaft verankert seien, bleibe echte Reziprozität eine Herausforderung, so die Sprecherin der Frauen- und Geschlechterforschung an der katholischen Fakultät der Universität Graz.
Der Begriff der Reziprozität taucht an mehreren Stellen des Abschlussdokuments der Weltsynode auf: im familiären Kontext (Nr. 35), in spirituellen Fragen (Nr. 44), im Verhältnis von Mann und Frau (Nr. 52), in kirchlichen Dialogprozessen (Nr. 90), in lokalen christlichen Gemeinschaften (Nr. 117), im Zusammenspiel von Orts- und Weltkirche (Nr. 121) sowie im interreligiösen Dialog (Nr. 123).
Interdisziplinärer Forschungsworkshop
Die theologischen und kirchenpolitischen Auswirkungen des Begriffswechsels wurden diese Woche auch bei einem interdisziplinären Forschungsworkshop in Bochum diskutiert. Organisiert wurde die Veranstaltung unter dem Titel „Reziprozität statt Komplementarität. Erkundungen zur veränderten Rezeption der Geschlechtsstereotype im Abschlussdokument der Weltsynode" von den Theologinnen Martina Bär (Graz) und Julia Enxing (Bochum), Vorsitzende des Vereins AGENDA. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Rom und Österreich befassten sich dabei mit den Auswirkungen des neuen Begriffs auf Geschlechteranthropologie, Ekklesiologie, Gotteslehre und theologische Ethik.
Die Forschungsergebnisse des Workshops werden 2026 in der Reihe „Quaestiones Disputatae" (Herder) veröffentlicht.
(kap – gs)
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