Italien: Kontroverse um das Turiner Grabtuch
Ein Artikel von Cicero Moraes in der Zeitschrift ?Archaeometry“ führt aus, dass die Abdrücke im Stoff nicht vom Leichnam eines Mannes stammten, sondern von einem künstlichen ?Modell“, einer Art Flachrelief. Das würde eine Datierung des Grabtuchs ins Mittelalter nahelegen. Der Autor stützt sich bei seiner Analyse auf 3D-Modelle eines menschlichen Körpers und eines Flachreliefs. Sein Befund: Wenn das Tuch über einen dreidimensionalen menschlichen Körper gelegt worden wäre, dann wäre der Verzerrungseffekt beim Abdruck viel größer. Die Wissenschaft nennt das den Agamemnon-Masken-Effekt.
Diesem Artikel stemmt sich der Hüter des Grabtuchs, Kardinal Roberto Repole, entgegen. In einer Erklärung spricht der Erzbischof von Turin von einer ?freihändig formulierten“ Hypothese und nennt Moraes‘ Darstellung ?oberflächlich“. Sie halte aus seiner Sicht einer genaueren Prüfung nicht stand. Besorgt ist der Kirchenmann dennoch. Es sei wichtig, ?die nötige kritische Aufmerksamkeit gegenüber dem, was da so leichtfertig veröffentlicht wird, niemals aus den Augen zu verlieren“.
Eines der am intensivsten untersuchten historischen Objekte überhaupt
Es ist nur die allerneueste in einer langen Kette von Kontroversen, die das im Turiner Dom aufbewahrte Grabtuch im Lauf der Jahrhunderte begleitet haben. Auf dem 4,5 Meter langen Tuch, das im 14. Jahrhundert erstmals schriftlich erwähnt wurde, sind die Vorder- und Rückseite eines Menschen abgedrückt, dessen Verletzungen an die Passion Jesu Christi denken lassen. Im Foto-Negativ, wie es erst im 19. Jahrhundert möglich wurde, erscheint ein beeindruckend plastisches Bild. Das Grabtuch (ital. sindone) ist eines der am intensivsten untersuchten historischen Objekte überhaupt und wird nur bei seltenen Anlässen öffentlich gezeigt.
?Keine neuen Erkenntnisse“
Das Turiner Zentrum für Forschungen zum Grabtuch beschäftigt sich in einem Dokument eingehend mit Cicero Moraes‘ Aufsatz ?Image formation on the Holy Shroud – A digital 3D approach“. Dabei widerspricht es im Kern gar nicht seinen Ausführungen zum Verzerrungseffekt: Dieser sei schließlich schon ?seit den ersten Studien von Vignon und Delage aus dem Jahr 1902 bekannt“. Der Autor wiederhole somit nur, was man schon lange wisse, dass nämlich ?das Abbild auf dem Turiner Grabtuch als orthogonale Projektion dargestellt ist“. Das seien also ?keine neuen Erkenntnisse“.
Allerdings blende Moraes aus, dass Vor-Ort-Studien eines Forscherteams von 1978 und die nachfolgenden chemisch-physikalischen Analysen die Entstehung des Abbildes durch Malerei oder Kontakt mit einem Flachrelief (auch mit einer ?erhitzten Statue/einem erhitzten Flachrelief“) ausgeschlossen hätten. Die Vermutung des Autors, dass das Grabtuch auf die genannte Art und Weise entstanden sei, könne als längst widerlegt gelten.
Das Turiner Forschungszentrum verwirft also Moraes‘ Aufsatz und Befund. Stattdessen betont es die Bedeutung eines strengen, interdisziplinären Ansatzes, der klar zwischen gesicherten Daten und Hypothesen unterscheidet und der die Ergebnisse aller beteiligten Disziplinen integriert. Digitale Modelle könnten zur Reflexion beitragen, ersetzten jedoch nicht die physikalische und chemische Analyse des historischen Stoffes.
Ähnlich vernichtend äußert sich auch Emanuela Marinelli, eine der bekanntesten Forscherinnen zum Turiner Grabtuch. Gegenüber der katholischen Nachrichtenagentur SIR nennt sie die kürzlich in ?Archaeometry“ veröffentlichte Studie eine mediale Aktion ohne wissenschaftlichen Wert. Der Aufsatz ignoriere zum Beispiel alle Hinweise auf menschliches Blut und auf Mikrospuren, die für seine Herkunft aus Jerusalem sprächen.
(vatican news - sk)
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