Fünf Minuten mit Abt Nikodemus (1)
Wie erlebt Abt Nikodemus diese aufgeheizten Tage und Wochen im Heiligen Land? Das war unsere erste Frage.
?Es gibt ein Bild, das mich gewissermaßen durchträgt in den letzten Monaten: Wir versuchen als Klöster (mir sind ja zwei Klöster anvertraut, die Dormitio in Jerusalem und Tabgha am See Genezareth), Hoffnungsinseln zu sein in einem Ozean von Leid. Das ist es, was ich erlebe – ich sehe einfach nur leidende Menschen. Und ich sperre mich gegen dieses Gewinner-Verlierer-Narrativ; denn ich sehe keine Gewinner, wenn ich auf die letzten Wochen blicke. Geht es den Menschen im Iran jetzt besser? Nein. Geht es den Menschen in Israel jetzt besser? Nein. Geht es den Menschen in Gaza jetzt besser? Nein. Geht es den Menschen auf der Westbank besser? Nein.
Mich stößt diese Propaganda auf allen Seiten ab: Das eigene Leid ins Schaufenster zu stellen und das Leid des anderen zu marginalisieren. Ich bin umgeben von einem Ozean von Leid… Jetzt können wir gerne aufzählen: Seien es viele liebe jüdische Freunde, die immer noch bangen um die Geiseln in Gaza und die das Gefühl haben, die Geiseln seien schon längst nicht mehr Priorität. Seien es viele meiner lieben christlichen und muslimischen Freunde, die zum Teil ihre gesamte Verwandtschaft in Gaza verloren haben. Viele Christen, denen ich sehr eng verbunden bin, zittern wirklich um die, die in den beiden Kirchen-?Compounds“ in Gaza – dem orthodoxen und dem römisch-katholischen – ausharren. Und wenn ich dann in der Westbank etwa Taybeh sehe, das einzige christliche Dorf der Westbank mit drei sehr lebendigen Pfarreien (griechisch-orthodox, griechisch-katholisch, römisch-katholisch) und mit drei tollen Priestern, die ich kenne – wie die Menschen dort immer wieder von Siedlern attackiert werden… Also, ich könnte mit der Aufzählung noch länger weitermachen.
Eine Entfesselung des Unguten
Es ist einfach eine Entfesselung des Unguten! Ich habe das Gefühl, dass das, was unter die Räder kommt, eigentlich das ist, was wir in Deutschland letztes Jahr groß gefeiert haben: 75 Jahre deutsches Grundgesetz mit dem wunderbaren ersten Artikel. Absatz eins: ?Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. Religiös gesehen haben wir im Buch Genesis die wunderschönen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit eines jeden Menschen, und im Koran (Sure 2, V. 30): ?Jeder Mensch ist Stellvertreter Gottes‘. Diese Heiligkeit des menschlichen Lebens, das kommt mir komplett unter die Räder.
Es wird wirklich mit Menschenleben umgegangen, als ob sie nichts wert wären; Menschenleben werden dehumanisiert und dämonisiert. Man behauptet, der andere sei kein Mensch mehr, sondern Tier in Menschengestalt, Monster, Kakerlake, Ratte. Und es wird auch sehr wattiert formuliert: Soldaten fallen, sie sterben nicht; Terroristen werden neutralisiert. Wir haben fast schon eine ganze Wortindustrie geschaffen, um zu verschleiern, um was es eigentlich geht: Menschen töten Menschen. Menschen sterben durch Menschenhand.
In diesem Ozean von Leid da zu sein für die Menschen
Und das ist die Berufung für unsere beiden Klöster: Jetzt auszuhalten. In diesem Ozean von Leid da zu sein für die Menschen, egal ob jüdisch, christlich, muslimisch, drusisch, atheistisch, da zu sein. Im Gebet, in Treue unsere Türen offen zu halten. Keinen unserer Mitarbeiter zu entlassen. Und eben neben den Gebeten gerade auch diese Gottesebenbildlichkeit zu feiern: durch Ausstellungen, durch Konzerte (bezogen auf Jerusalem) oder durch unsere Behinderten- und Jugendbegegnungsstätte (bezogen auf Tabgha). Das ist unsere große Berufung. Wir versuchen Hoffnungsinseln zu sein in einem Ozean von Leid. Aber natürlich kostet das richtig Kraft und Energie…“
In unserer nächsten Folge wird es um die Frage gehen: Ist der interreligiöse Dialog jetzt eigentlich mausetot?
(vatican news – sk)
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